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Junge Frau schreit mit Blick in die Kamera. Thema Migräne Junge Frau schreit mit Blick in die Kamera. Thema Migräne

Folge 26 – Unsichtbares Leid

Warum Betroffene sich für chronische Migräne oft rechtfertigen müssen

Wer unter einer unsichtbaren Krankheit leidet, wird früher oder später auch mit den unrealistischen Erwartungen Außenstehender konfrontiert. Klingt erst mal komisch, zumal unser Gesundheitszustand etwas sehr Persönliches ist. Doch spätestens, wenn eine Erkrankung chronisch wird, bleibt Betroffenen nichts anderes übrig, als die Menschen in ihrem beruflichen und privaten Umfeld darüber aufzuklären. Schließlich gehen mit einer schwankenden gesundheitlichen Verfassung meist auch kurzfristige Absagen und Krankmeldungen einher. Diana weiß aus eigener Erfahrung, dass der offene Umgang mit chronischer Migräne leider nicht nur zu verständnisvollen Reaktionen führt – sondern oft auch zu einer irrationalen Anspruchshaltung ihr gegenüber.

Todeskopfschmerz vs. Dauerkopfschmerz

Bevor meine Migräne chronisch geworden ist, war das Mitleid, das mir dahingehend entgegengebracht wurde, in der Regel recht groß. Wann immer ich von den vernichtenden Schmerzattacken berichtete, die wie aus dem Nichts über mich hereinbrachen und von starker Übelkeit, Lichtempfindlichkeit und Erbrechen begleitet wurden, schaute ich in fassungslose Gesichter. Ständig wurde ich gefragt, wie ich das alles schaffe und so absurd es klingt – auf gewisse Weise wurde mir so Respekt entgegengebracht. Es ist wahrscheinlich überflüssig, zu betonen, dass ich mir nichts davon kaufen konnte und statt der Anerkennung für meine Tapferkeit lieber keine Migräne gehabt hätte. Doch man kann sich seine Dämonen nicht aussuchen und so erschien es mir bloß fair, dass mein Leid zumindest gesehen wurde. Das änderte sich, als die heftigen Attacken in konstante Dauerkopfschmerzen übergingen. Diese neue Form der Belastung war zwar weniger schmerzintensiv als die Anfälle, bei denen ich aufgrund der pulsierenden Stiche oft über Stunden kein Wort mehr herausbrachte, doch die pausenlose Endlosschleife zermürbte mich auf Dauer. Hatte ich während einer Migräneattacke bisher immer die Gewissheit gehabt, dass der Spuk spätestens nach zehn Stunden vorbei ist, ging ich nun regelmäßig nach 16 Stunden Kopfschmerzen erschöpft ins Bett, um am nächsten Morgen im selben Zustand wieder aufzuwachen – und das manchmal zwei Wochen am Stück. Ich war komplett am Ende, zog mich immer mehr zurück, sagte häufiger Verabredungen ab, meldete mich öfter krank. Doch zu meiner Verwunderung hielt sich das Mitgefühl der anderen plötzlich in Grenzen. Langsam dämmerte mir, dass der einstige Todeskopfschmerz, der mich zittern, schwitzen und kotzen ließ, die Menschen auf eine schaulustige Art und Weise fasziniert hatte. Die unspektakulären Dauerkopfschmerzen hingegen waren für viele einfach nur nervig.

Junge Frau blickt lächelnd in die Kamera. Thema MigräneQuelle: © https://info.novitas-bkk.de

Chronisch krank: Anspruch & Vorurteil

Die Musikjournalistin und Podcasterin Charlotte Mellahn aka Visa Vie hat letzte Woche einen Post bei Instagram veröffentlicht, der mir aus der Seele sprach. Vor knapp dreieinhalb Jahren hat sie sich mit Corona infiziert, seitdem ist ihr Leben ein anderes. Sie leidet an Long-Covid, was in ihrem Fall nicht nur die typischen Symptome wie Atemnot, Erschöpfung und Konzentrationsschwierigkeiten mit sich bringt, sondern auch eine Diabetes-Typ-1-Diagnose sowie eine chronische Herzmuskelentzündung. In dem besagten Post schrieb sie: „Bin jedes Mal wieder fasziniert wie wenig Vorstellungskraft & Verständnis es für das Leben von Menschen mit chronischen Erkrankungen gibt. Für mich & Millionen Andere gibt es nicht diesen einen konstanten Zustand, in dem man entweder 100% dauerhaft so schwer krank ist, dass man dadurch per se gar nicht mehr das Bett verlassen kann, oder sich permanent fit genug fühlt, um tagtäglich leistungsfähig zu sein. Unsere Realität sieht ganz anders aus.“ Damit spielt sie auf die Kommentare wildfremder Menschen an, die sie in regelmäßigen Abständen darauf hinweisen, dass sie sich langsam mal entscheiden müsse, ob sie nun chronisch sei oder Karriere machen wolle – beides ginge schließlich nicht. Und obwohl sich unsere Krankheitsbilder nicht miteinander vergleichen lassen, kommen mir diese Bemerkungen sehr bekannt vor. Auch einigen meiner Follower, und anderen Menschen aus meinem Umfeld, scheint es massives Kopfzerbrechen zu bereiten, wie es sein kann, dass ich mit chronischer Migräne als freischaffende Journalistin und Podcasterin arbeite, die Deadlines halten und manchmal auch zu vereinbarten Terminen auf einer Bühne stehen muss. Anstatt sich für mich zu freuen, weil ich all das – trotz meiner neurologischen Erkrankung – irgendwie hinbekomme, scheinen einige den großen Betrug zu wittern. Als hätte ich mir die Migräne bloß ausgedacht, schließlich könne es mir so schlecht ja gar nicht gehen, wenn ich das noch alles hinbekomme. Da stellt sich mir zwangsläufig die Frage, was ich davon hätte, da mir das Stigma der chronischen Erkrankung de facto nichts als Nachteile bringt. Meine Auftraggeber haben hier und da wahrscheinlich das Gefühl, ein Risiko einzugehen, wenn sie mich als Moderatorin für ihre Veranstaltung buchen, weil immer die Gefahr besteht, dass ich kurzfristig absagen muss. Und auch privat gab es Zeiten, in denen man mit mir nicht gut planen konnte.

Was sich gesunde Menschen unter chronischer Migräne vorstellen, hat nichts mit der Lebensrealität Betroffener zu tun.«

Realitycheck: Wie sieht der Alltag mit Migräne wirklich aus?

Visa Vie hat recht: Vielen Menschen mangelt es offenbar an Vorstellungskraft. Obwohl sie selbst gesund sind, haben sie bestimmte Erwartungen an chronische Erkrankungen, die sich jedoch nur selten mit der Lebensrealität der Betroffenen deckt. Genau genommen handelt es sich dabei um ein Schwarz-Weiß-Denken, das zu großen Teilen auf Narrativen beruht. Chronisch Kranke sind diesen Vorurteilen zufolge in einem aussichtslosen Dauerzustand gefangen, der sich Tag für Tag gleicht und sie vom Leben und Arbeiten abhält – ja, möglicherweise sogar ans Bett fesselt. Der tatsächliche Alltag sieht jedoch bei vielen anders aus. Es gibt gute und schlechte Phasen, gute und schlechte Tage. Ich blicke auf Abschnitte zurück, in denen ich über mehrere Wochen ausgefallen bin, weil ich in einer Kopfschmerzschleife gefangen war, die es mir unmöglich gemacht hat, mich zu konzentrieren und abzuliefern. Doch es gibt auch immer wieder Phasen, in denen ich ganze Tage und Nächte durcharbeite und zu Höchstleistungen in der Lage bin. Und dann ist da eben noch die unsichtbare Grauzone, die wahrscheinlich den größten Teil meiner Lebenszeit einnimmt. An diesen Tagen geht es mir nicht gut, die unterschwelligen Kopfschmerzen und die latente Übelkeit sind allgegenwärtig, aber nicht so stark, dass ich mich dauerhaft hinlegen muss. Also arrangiere ich mich mit diesem Zustand und gehe meinen Verpflichtungen nach, um nicht schon wieder auszufallen – nicht zuletzt, um teilhaben zu können. Für Außenstehende funktioniere ich in diesen Episoden. Doch in Wahrheit quäle ich mich. Meine Aufgaben gehen mir nur langsam und schwerfällig von der Hand, ich bin unkonzentriert, schließe immer wieder die Augen, drifte gedanklich ab, unterdrücke die Tränen, wenn auch die dritte Tablette nicht wirkt und brauche beispielweise für diese Kolumne dreimal so lange wie normalerweise. Diese Tage machen weite Strecken meines Alltags aus und ich bin mir sicher, dass die meisten gesunden Menschen sich in diesem Zustand krankmelden würden. Aber diesen Luxus habe ich nicht, weil es zu oft vorkommt und die Konsequenz daraus wäre, dass ich meine Selbstständigkeit an den Nagel hängen und mein jetziges Leben aufgeben müsste.

Ich bin es so leid, den einen ständig zu krank und den anderen nicht krank genug zu sein.

Erschöpfung vs. Hoffnung

Das Paradoxe an den Erwartungen anderer ist jedoch, dass ich es ihnen sowieso nicht recht machen kann. Bin ich im Urlaub oder feiere berufliche Erfolge, schreiben mir die Leute: „Schön, dass es dir endlich besser geht.“ Dabei liege ich beim Posten solcher Beiträge mitunter heulend im Bett, weil ich seit fünf Tagen Dauerkopfschmerzen habe und an meine körperlichen und mentalen Grenzen komme. Mache ich hingegen diese belastenden Phasen zum Thema, indem ich die Karten auf den Tisch lege, erreichen mich Nachrichten wie: „Das kann doch nicht sein, da muss doch jetzt endlich mal was passieren.“ Ich bin es so leid, den einen ständig zu krank und den anderen nicht krank genug zu sein, weil mein tatsächliches Befinden dabei nicht nur in den Hintergrund rückt, sondern oftmals auch nicht akzeptiert wird. Ich brauche kein Mitleid und keine Tapferkeitsbekundungen, aber ich will mich auch nicht dauernd erklären müssen, weil Außenstehende sich etwas anderes unter chronischer Migräne vorstellen. Nur weil ich es phasenweise schaffe, mir meine Erkrankung nicht anmerken zu lassen, heißt das nicht, dass ich geheilt bin und ich dieses Kapitel hinter mir gelassen habe. Selbst wenn ich von außen betrachtet funktioniere, steckt oft ein ausgeklügeltes Krisenmanagement dahinter: Pausen außer der Reihe, wenn ich im Büro ein Triptan nehmen und mich zwei Stunden hinlegen muss, daraus resultierende Überstunden, um meine Deadlines halten zu können. Ganz zu schweigen von Freizeitaktivitäten, auf die ich in gewissen Zyklusphasen bewusst verzichte, um das Überlappen verschiedener Trigger zu vermeiden. Mein gesamter Alltag ist darauf ausgelegt, Migräneattacken vorzubeugen, Symptome – wenn nötig – zu überspielen und mich ihnen hinzugeben, wenn es unvermeidbar ist. Und eins kann ich euch versichern: Ein abschätziges „Na so schlimm kann es ja wohl nicht sein, wenn dies und das noch hinbekommt“ fühlt sich im falschen Moment wie ein Schlag in die Magengrube an. Daher tut uns chronisch Kranken bitte einen Gefallen und glaubt uns, wenn wir sagen, dass ihr nur die Spitze des Eisbergs seht.

Diana Ringelsiep

Journalistin, Autorin und Migräne-Patientin

Kolumne: #mittwochsistmigräne

Ich lebe seit über 20 Jahren mit Migräne und habe es mir zur Aufgabe gemacht hat, über die neurologische Erkrankung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Auf dass Betroffene sich weniger einsam und Angehörige weniger hilflos fühlen.

  • Jahrgang 1985
  • Kulturjournalistin, M. A. (2012)
  • Wohnhaft in Essen

www.diana-ringelsiep.de 

 

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