Folge 9 – Sportbedingte Migräne
Wenn das Training zum Trigger wird
Wer regelmäßig von Kopfschmerzen geplagt ist, kommt an einem Ratschlag nicht vorbei: „Du solltest mehr Sport machen, Bewegung wird dir guttun.“ Doch das stimmt nur bedingt, denn nicht jede Sportart wirkt sich positiv auf chronische Migräne aus. Im schlimmsten Fall kann eine Attacke sogar durch eine Trainingseinheit ausgelöst werden. Umso wichtiger ist es, zu verstehen, wo die persönliche Grenze zwischen Vorbeugung und Auslöser verläuft. Auch die Sportart an sich spielt eine Rolle – schließlich macht es einen Unterschied, ob Betroffene zum Rugby oder Yoga gehen. Es kann frustrierend sein, die ideale Auslastung für sich zu finden. Aber die gute Nachricht ist: Wer sie einmal gefunden hat, kann die Häufigkeit der Anfälle rund 20 Prozent reduzieren.
„Boxen? Das versuche ich mal. “
Ich gehöre leider nicht zu den Menschen, denen die Decke auf den Kopf fällt, wenn sie sich zu wenig bewegen. Ich wünschte, es wäre anders und ich könnte mich mehr dafür begeistern, mich auszupowern und meinen Muskelkater zu zelebrieren – anderen macht das schließlich auch Spaß. Aber mein Bewegungsdrang hält sich schlicht und ergreifend in Grenzen. Mir fehlt nichts, solange ich jeden Tag mit meinem Hund spazieren gehe und gelegentlich zu meinen Lieblingssongs durchs Zimmer tanze. Das heißt jedoch nicht, dass ich es nicht besser weiß. Wer regelmäßig körperlich aktiv ist, beugt nicht bloß Übergewicht vor, sondern auch Schlafstörungen, Rückenschmerzen sowie Herz- und Kreislauferkrankungen. Zudem sind körperlich ausgelastete Menschen zufriedener. Grund genug, mich immer wieder aufs Neue zu überwinden und unterschiedliche Sportarten auszuprobieren. Die erhoffte Begeisterung hat sich lange Zeit jedoch nicht eingestellt. Stattdessen habe ich bloß unnötig viel Geld ausgegeben, u. a. für eine kaum genutzte Fitnessstudio-Mitgliedschaft, eine Kletterausrüstung und ein Laufband.
Letztes Jahr war es dann mal wieder so weit: Eine Box-Ausrüstung musste her! Gemeinsam mit einer Freundin meldete ich mich für einen Kurs an und wollte es wissen. Das Training war hart: Rennen, Seilspringen, Liegestütze – Schneller! Höher! Tiefer! Schon nach der ersten Viertelstunde fragte ich mich, was ich mir eigentlich dabei gedacht hatte, mich einer der anstrengendsten Sportarten überhaupt zu stellen. Doch meine Angst vor einer Blamage war größer als der Wunsch aufzugeben. Ich zog es durch und boxte in die Pratzen, bis ich die Arme nicht mehr oben halten konnte. Aber so sehr ich mich auch quälte, zum ersten Mal seit vielen Jahren war mein Ehrgeiz geweckt und das Brennen meiner Muskeln fühlte sich auf dem Heimweg wie eine Belohnung an. Zumindest, bis ich zu Hause ankam und eine schwere Migräneattacke über mich hereinbrach.
Was ich am Abend jenes ersten Trainings noch nicht wusste: Während moderate Sportarten den Stresshormonpegel senken und chronischen Kopfschmerzen vorbeugen, können intensivere Betätigungen die Migräne sogar triggern und Anfälle herbeiführen.
Verausgabung mit Folgen
Was ich am Abend jenes ersten Trainings noch nicht wusste: Während moderate Sportarten den Stresshormonpegel senken und chronischen Kopfschmerzen vorbeugen, können intensivere Betätigungen die Migräne sogar triggern und Anfälle herbeiführen. Der Neurologe Hille Koppen untersuchte 2013 gemeinsam mit dem Sportmediziner Peter LJ van Veldhoven den Zusammenhang von Sport und Migräne. Das Ergebnis der niederländischen Studie: 38 Prozent der insgesamt 103 untersuchten Migräniker*innen erlitten, unabhängig ihres Geschlechts, innerhalb von 48 Stunden nach dem Training einen Anfall. Bei etwa der Hälfte der Betroffenen setzten die Kopfschmerzen sogar schon währenddessen ein. Ein Phänomen, das leider auch auf mich zutraf. Der Zusammenhang war nicht zu leugnen. Nach jedem einzelnen Boxtraining wurde ich noch am selben Abend von einer schweren Attacke heimgesucht, die stets mit einem Ziehen im Nacken begann und sich schließlich einseitig über Kopf und Gesicht ausbreitete. Ein Ablauf, der typisch für sogenannte Anstrengungskopfschmerzen ist, die unmittelbar nach einer körperlichen Verausgabung auftreten und mit einem deutlichen Pulsanstieg einhergehen.
Es wird vermutet, dass die meist pochenden Schmerzen auf Spannungsveränderungen der erweiterten Gefäße im Kopf zurückzuführen sind. Betroffenen wird daher geraten, große Energiedefizite zu vermeiden und ihre Grenzen kennenzulernen. Insbesondere Kraftsport ist umstritten, da die Fettverbrennung nach einem intensiven Muskeltraining oft über Stunden anhält und zu einer Unterzuckerung führen kann – dasselbe gilt für Sport auf nüchternen Magen. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass es sich bei Migräne um eine genetisch bedingte Reizverarbeitungsstörung handelt. Ein überfülltes Fitnessstudio, in dem laute Musik läuft, kann demnach gleichermaßen zu einem Auslöser werden wie eine Laufstrecke, die an überfüllten Gehwegen und hupenden Autos vorbeiführt.
Ursachen sportbedingter Migräne
Die Gründe von sportbedingter Migräne noch nicht abschließend erforscht. Doch so viel steht fest – die folgenden drei Theorien spielen eine Rolle:
Kardiovaskuläre Reaktionen
- Bei besonders anstrengenden Übungen erhöht sich das Herzzeitvolumen (HZV) – also das Blutvolumen, das pro Minute vom Herz in den Kreislauf gepumpt wird. Dabei gilt: Je größer die körperliche Belastung, desto höher der Pulsschlag pro Minute und desto höher auch der systolische Blutdruck. Das HZV steigert sich beim Sport bis auf das Vierfache. In der bereits erwähnten niederländischen Studie werden diese physischen Reaktionen als eine mögliche Ursache sportbedingter Migräne betrachtet. Dafür spricht unter anderem, dass die Einnahme von Betablockern – die sowohl das Herzzeitvolumen als auch den Blutdruck senken – sportbedingte Anfälle verhindern können. Und auch die Tatsache, dass Betroffene meist in der Lage sind, moderate Ausdauersportarten zu praktizieren, stützt diese Theorie.
Übersäuerungen durch Laktat
- Bei intensivem Training wechselt der Körper von einem aeroben Stoffwechsel, bei dem ausreichend Luft für die Energiegewinnung vorhanden sein muss, zu einem anaeroben Stoffwechsel. Dabei werden unter Sauerstoffmangel Kohlenhydrate verstoffwechselt und es entsteht Laktat – ein Milchsäuresalz, das der Körper vor allem bei kurzen Intensivleistungen und schwerem Krafttraining produziert. Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Migränepatient*innen ein höherer Laktatspiegel im Gehirn nachgewiesen werden kann als bei Menschen ohne Migräne. Es ist daher naheliegend, dass ein Zusammenhang zwischen körperlicher Verausgabung und darauffolgenden Migräneattacken besteht.
Hormonelle Dysfunktion
- Das Hormon Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) ist ein Botenstoff, der gefäßerweiternd wirkt und am Schmerzempfinden beteiligt ist. Forschende der Charité Berlin haben den Einfluss des Hormons auf Migräneattacken untersucht und herausgefunden, dass Frauen vor allem kurz vor ihrer Monatsblutung verstärkt CGRP ausschütten – also genau in der Zeit, in der es besonders häufig zu zyklusbedingter Migräne kommt. Spannend daran ist, dass es auch beim Sport zu einem deutlichen Anstieg des CGRP-Spiegels kommt, was möglicherweise auf die Muskelschmerzen bei körperlicher Verausgabung zurückzuführen ist. Ob der Botenstoff die sportlich bedingte Migräne jedoch tatsächlich auslöst, muss noch weiter erforscht werden.
Ein überfülltes Fitnessstudio, in dem laute Musik läuft, kann demnach gleichermaßen zu einem Auslöser werden wie eine Laufstrecke, die an überfüllten Gehwegen und hupenden Autos vorbeiführt
Sport als Prophylaxe
Herauszufinden, dass ausgerechnet die erste Sportart, für die ich mich wirklich begeistern konnte, bei mir zu schweren Migräneattacken führt, ist denkbar frustrierend gewesen. Ich dachte: „Da fällt es mir eh schon so schwer, mich aufzuraffen – und dann werde ich auch noch dafür bestraft, meinem inneren Schweinehund zu überwinden!“ Zu gewissen Teilen stimmt das ja auch: Es ist nicht fair! Dennoch heißt das nicht, dass jedes Training unausweichlich zu Migräne führen muss. Sport kann zwar ein Auslöser sein – muss aber nicht. Die Leute haben Recht, mit ihren gut gemeinten Ratschlägen: Bewegung trägt nachweislich dazu bei, die Häufigkeit und Intensität von Migräneanfällen zu reduzieren. Es ist bloß nicht jede Trainingsform für alle Betroffenen geeignet. Deshalb lohnt es sich, herauszufinden, wo die eigenen Grenzen liegen und was am besten zu einem passt. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass moderate Sportarten für Migränepatient*innen besser geeignet sind als solche, bei denen man ständig am Limit trainiert und sich körperlich verausgabt. Und es gibt noch ein paar andere Dinge, auf die Betroffene achten können:
- Energiedefizit entgegenwirken: Nicht mit leerem Magen trainieren
- Aufwärmen nicht vergessen: Tempo bzw. Intensität der Übungen langsam steigern
- Dehydrierung vorbeugen: Vor, während und nach dem Sport ausreichend Wasser trinken, um gar nicht erst durstig zu werden
- Persönliche Trigger beachten: Tagesaktuelle Einflüsse wie Menstruationszyklus, Wetter und Stress berücksichtigen, damit nicht zu viel zusammenkommt
Ich habe das Boxen schließlich schweren Herzens an den Nagel gehängt und einige Monate später das Schwimmen für mich entdeckt. Zweimal die Woche gehe ich seitdem ins Hallenbad und ziehe meine Bahnen – in meinem Tempo und ausschließlich an Tagen, an denen ich mich fit genug fühle. Und wisst ihr was? Seit einiger Zeit zelebriere ich sogar meinen Muskelkater.
Quellen
- Hille Koppen und Peter LJ can Veldhoven, „Migraineurs with exercise-triggered attacks have a distinct migraine”, Dezember 2013
- Deutsche Hirnstiftung, „Sport hilft bei Migräne und Kopfschmerz“, 23.03.2021
- Charité Berlin, „Warum Migräne häufig während der Menstruation auftritt“, 23.02.2023
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