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Junge Frau sitz an Weihnachten Fenster. Kolumne Migräne Junge Frau sitz an Weihnachten Fenster. Kolumne Migräne

Folge 11 – O du fröhliche Triggerzeit

Kerzen, Glühwein & Migräne

Lichterketten schmücken und bergeweise Plätzchen backen – für viele Menschen ist die Adventszeit die schönste Zeit des Jahres. Doch wer unter Migräne leidet, kann sich dem Weihnachtstrubel leider nicht ganz so unbedarft hingeben. Der Grund dafür sind zahlreiche „saisonbedingte“ Trigger, die im Dezember hinter jeder Ecke Trigger lauern und schwere Kopfschmerzattacken auslösen können. An den Feiertagen sind Betroffene besonders gefährdet. Warum das so ist und worauf Migräniker*innen achten müssen, um das Fest in vollen Zügen genießen zu können, hat unsere Kolumnistin Diana diesmal für euch zusammengetragen.

Die Feiertagsmigräne

Es muss irgendwann in den frühen Nullerjahren gewesen sein, als ich zum ersten Mal am Weihnachtsmorgen mit höllischen Kopfschmerzen erwachte. Wir verbrachten die Feiertage in jenem Jahr bei meinen Großeltern und ich erinnere mich noch an die Enttäuschung in den Gesichtern der Erwachsenen, die nacheinander den Kopf zur Tür des Gästezimmers hineinstreckten, um nach mir zu sehen. Alle hatten sich so sehr auf die gemütlichen Feiertage im Kreise der Familie gefreut und meine Oma hatte sich so viel Mühe bei den Vorbereitungen gegeben. Aber ich konnte beim besten Willen nicht aufstehen. Mir war schlecht und die fröhlichen Stimmen im Esszimmer nebenan schienen immer lauter zu werden. Ich hielt mir mit den Ecken des Kopfkissens die Ohren zu und der Schmerz hinter meiner rechten Schläfe pulsierte im Takt meines Herzschlags. Als schließlich auch noch der Geruch von Eiern und Speck unter der Tür durchdrang, sprang ich auf und rannte ins Bad, um mich zu übergeben. Mein erster Migräneanfall lag damals noch nicht lange zurück, weshalb wir zu diesem Zeitpunkt noch alle spekulierten, warum es mir manchmal so schlecht ging und ob es nicht doch einen anderen Grund für das vorübergehende Elend geben konnte als Migräne. So waren sich an dem Morgen alle schnell einig, dass ich am Abend zuvor zu viel Schokolade und Dominosteine gegessen haben musste. Anders konnte man sich meinen plötzlichen Totalausfall nicht erklären. Natürlich tat ich den Erwachsenen damals unrecht. Niemand war enttäuscht von mir, im Gegenteil – ich tat ihnen unendlich leid und sie fühlten sich schlecht, weil sie unbeschwert zusammensaßen und all die leckeren Dinge in sich hineinstopften, während ich nebenan im Bett lag und mich quälte. Inzwischen weiß ich, dass das schlechte Gewissen bei Betroffenen und Angehörigen nie größer ist als bei einer Feiertagsmigräne.

Eine Studie der Universität Göttingen ergab, dass die Lebensqualität in christlich geprägten Ländern ausgerechnet in der Weihnachtszeit abnimmt, während das Stresslevel konstant steigt.

Advent – der Terminkalender brenntTrigger

Seit dem besagten Weihnachtsfest sind über 20 Jahre vergangen und mittlerweile ist mir klar geworden, dass ich nicht die Einzige bin, die in der Adventszeit – und vor allem während der Feiertage – besonders anfällig für Migräne ist. Was ich zu Beginn vor allem als unfair empfand, ist bei näherer Betrachtung allerdings nur wenig verwunderlich. Denn während uns in Filmen und in der Werbung das Bild einer besinnlichen Weihnachtszeit suggeriert wird, in der wir den Alltagsstress hinter uns lassen und zuhause bei einer Tasse Früchtetee das vergangene Jahr Revue passieren lassen, sieht die Realität für die meisten von uns anders aus. Eine Studie der Universität Göttingen ergab, dass die Lebensqualität in christlich geprägten Ländern ausgerechnet in der Weihnachtszeit abnimmt, während das Stresslevel konstant steigt. Gründe dafür gibt es viele. Der immense Zeitdruck, den viele verspüren, ist einer davon. Die Tage werden kürzer, die Listen mit Terminen und Besorgungen immer länger. Geschenke kaufen am Montag, Glühwein mit der besten Freundin am Mittwoch, Weihnachtsfeier mit den Kolleg*innen am Freitag, Adventsbrunch mit der Familie am Sonntag – und irgendwo dazwischen müssen noch Weihnachtskarten geschrieben, die Wohnung dekoriert und der Müll rausgebracht werden. Vor allem die sozialen Verpflichtungen nehmen im Dezember zu. Manchmal fühlt es sich so an, als ob ein Countdown startet, sobald die erste Kerze am Adventskranz brennt – und plötzlich wollen Menschen, mit denen man das ganze Jahr über kaum Zeit verbracht hat, gemeinsame Erinnerungen schaffen und sich zu Eierpunsch-Dates auf dem Christkindlmarkt verabreden. Hinzu kommen nicht selten finanzielle Sorgen. Schließlich gehen nicht nur die vorweihnachtlichen Restaurant- und Glühweinstandbesuche ins Geld, auch die Geschenke schlagen zu Buche. Der Blick aufs Konto kann im Dezember daher genauso zu Kopfschmerzen führen wie der in den Terminkalender. Und dass, obwohl ich nicht mal Kinder habe. Denn eins steht fest: Eltern haben dank Bastelstunden, Krippenspielen und erwartungsvollen, leuchtenden Kinderaugen noch tausendmal mehr Stress als ich.

Nach über 20 Jahren ist die schlimmste Erinnerung an meine erste Weihnachtsmigräne nicht etwa die Tatsache, dass mir ein schöner Tag im Kreise meiner Familie entgangen ist, sondern der Gedanke, dass ich ihnen das Fest versaut haben könnte.

Alle Jahre wieder: Migräne unterm Weihnachtsbaum

So gesehen ist es also kein Wunder, dass wir in der Weihnachtszeit oft besonders unter Druck stehen und zu stressbedingter Migräne neigen. Die zahlreichen Verabredungen außer der Reihe und die Erwartungshaltung anderer führt nämlich dazu, dass wir Routinen durchbrechen, die eine wichtige Rolle in der Prophylaxe spielen. Ändert sich unser Schlafrhythmus und lassen wir Mahlzeiten ausfallen – oder kommen welche hinzu – kann das Kopfschmerzen begünstigen und schlimmstenfalls eine Migräneattacke auslösen. Denn so ganz daneben lag meine Familie damals nicht, als sie den Dominosteinen die Schuld für meinen Anfall am Weihnachtsmorgen gegeben hat. Inzwischen weisen zwar verschiedene Studien darauf hin, dass Heißhunger auf Schokolade ein Vorbote sein und eine bevorstehende Migräne ankündigen kann, der Grund für die Schmerzen ist sie jedoch nicht. Schließlich liegt bei Betroffenen in der Regel keine generelle Unverträglichkeit vor. Trotzdem ist bei einigen weihnachtlichen Lebensmitteln Vorsicht geboten. So können beispielsweise Schwankungen des Blutzuckerspiegels das Migränerisiko erhöhen und sogar Entzündungsprozesse im Körper fördern. Und auch der beliebte Glühwein birgt ein Risiko. Aufgrund von Inhaltsstoffen wie Histamin, Tyramin und Phenylethylamin zählt Rotwein ohnehin zu den bekanntesten Triggern überhaupt. Bei Glühwein kommt meist erschwerend hinzu, dass für die Mischung ein billiger Grundwein verwendet wird, bei dessen Gärung sogenannte Fuselöle entstehen, die unter anderem zu Kopfschmerzen und Übelkeit führen. Jackpot. Aber auch das langeplante Fünf-Gänge-Menü ist nicht immer die beste Idee in puncto Migräne-Achtsamkeit. Laut der Deutschen Kopfschmerz- und Migräne-Gesellschaft (DKMG) ist eine regelmäßige und ausgewogene Ernährung das A und O. Das alljährlich zelebrierte Feiertagsfresskoma ist hingegen kontraproduktiv, da häufig ein plötzlicher Blutdruckabfall die Folge ist, woraus Müdigkeit und Kopfschmerzen resultieren. Eine unnötige physische Belastung, die nicht selten mit Migräne endet.

Junge Frau sitz an Weihnachten vor dem Tannenbaum und trinkt Kakao. Kolumne Migräne

Kopfschmerzfreie Feiertage

Aber worauf können Betroffene und ihre Angehörigen denn nun achten, damit das Fest nicht von einer plötzlichen Kopfschmerzattacke überschattet wird? Klingt egoistisch, aber mein Rat an Migräniker*innen lautet: Denkt mehr an euch selbst und weniger an die anderen. Für die meisten von uns gehen die Feiertage mit einer komplett unrealistischen Erwartungshaltung einher. Egal, ob wir das Fest selbst ausrichten oder bloß als Gast erscheinen – in unserer Vorstellung muss alles perfekt sein. Tolle Geschenke, leckeres Essen, gute Gespräche, ein hübsches Outfit und nicht zuletzt: die totale Entspannung! All das sind Ansprüche, die wir in erster Linie an uns selbst stellen und die uns als Betroffene häufig an unsere Grenzen bringen. Der angeblich besinnlichsten Zeit des Jahres gehen oft Wochen der Überanstrengung und Verausgabung voraus. Wir hetzen von Termin zu Termin, bekommen zu wenig Schlaf und die Vorfreude aufs Fest weicht mitunter sogar Geldsorgen. Nicht die besten Voraussetzungen, um die gemeinsame Zeit zu genießen und Heilig Abend auf Knopfdruck entspannen zu können. Wen überrascht es also, dass in vielen Familien unterm Tannenbaum die Fetzen fliegen, weil bei allen Beteiligten die Nerven blank liegen? Als Migränikerin kenne ich das Gefühl nur zu gut, dieses fragile Beisammensein nicht durch Extrawünsche gefährden zu wollen. Doch meist tun wir genau das, indem wir unsere Bedürfnisse aus Rücksicht nicht kommunizieren. Das Parfüm deiner Schwägerin löst oft Kopfschmerzen bei dir aus? Dann bitte sie vorab, es Weihnachten nicht aufzutragen. Die blinkende Lichterkette, auf die dein Vater so stolz ist, könnte zum Trigger werden? Lass es ihn wissen und er wird mit Sicherheit Verständnis dafür haben. Der teure Rotwein von Onkel Peter birgt hinsichtlich deiner Migräne ein Risiko für dich? Dann lehne dankend ab und trinke etwas anderes. Nach über 20 Jahren ist die schlimmste Erinnerung an meine erste Weihnachtsmigräne nicht etwa die Tatsache, dass mir ein schöner Tag im Kreise meiner Familie entgangen ist, sondern der Gedanke, dass ich ihnen das Fest versaut haben könnte. Dabei habe ich ihnen bloß leidgetan und ich wurde am Frühstückstisch vermisst. Deshalb habe ich beschlossen, es nach Möglichkeit gar nicht mehr so weit kommen zu lassen und im Vorfeld alle möglichen Trigger zu eliminieren – auf die Gefahr hin, dass einige meiner Verwandten mit den Augen rollen werden, aber das tut ja bekanntlich nicht weh. Frohe Weihnachten!

Quellen

Diana Ringelsiep

Journalistin, Autorin und Migräne-Patientin

Kolumne: #mittwochsistmigräne

Ich lebe seit über 20 Jahren mit Migräne und habe es mir zur Aufgabe gemacht hat, über die neurologische Erkrankung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Auf dass Betroffene sich weniger einsam und Angehörige weniger hilflos fühlen.

  • Jahrgang 1985
  • Kulturjournalistin, M. A. (2012)
  • Wohnhaft in Essen

www.diana-ringelsiep.de