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Folge 2 – Kenne deinen Feind

Wie ein Kopfschmerztagebuch dir dabei helfen kann

Wer unter Migräne leidet, ist oft auch von Selbstzweifeln betroffen: „Ist es möglich, dass ich bloß empfindlich bin und einfach nur ganz normale Kopfschmerzen habe?“ Einer der Gründe dafür ist die Tatsache, dass Migräne sich nicht immer gleich anfühlt. Gelegentlich kündigt sie sich langsam an, dann schlägt sie wieder ein wie eine Bombe. Manchmal sitzt sie hinterm linken Auge, beim nächsten Mal pocht sie in der rechten Schläfe. Hin und wieder müssen wir uns vor Schmerzen übergeben, an anderen Tagen haben wir Heißhunger auf Schokolade. Ein Kopfschmerztagebuch kann helfen, Ordnung ins Chaos zu bringen und gewisse Muster sichtbar machen.

Wie der Migränekalender hilft, Auslöser zu erkennen

Neulich habe ich von einer Freundin, die bereits seit über 20 Jahren einen festen Platz in meinem Leben hat, eine Sprachnachricht erhalten. Sie klang besorgt: „Ich muss dich mal was fragen. Heute Nacht bin ich von höllischen Kopfschmerzen geweckt worden, sie pulsierten hinter meiner linken Schläfe und waren so stark, dass ich wie gelähmt da lag und mich nicht bewegen konnte. War das eine Migräne?“ Damit hatte sie prompt drei Fragen mit „ja“ beantwortet, die Neurolog*innen bei der Erstdiagnose stellen:

  • Sind die Kopfschmerzen einseitig?
  • Sind die pochend oder pulsierend?
  • Werden sie durch Bewegung verschlimmert?

Ich schrieb ihr, dass diese Beschreibung eindeutig nach Migräne klingt und riet ihr, das medizinisch bestätigen zu lassen. Ihre Antwort: „Ich hatte ja keine Ahnung, was du durchmachen musst. Natürlich wusste ich, dass Migräne nicht mit normalen Kopfschmerzen vergleichbar ist, aber ich habe mir wirklich keine Vorstellung davon gemacht, wie vernichtend dieser Schmerz ist.“ Während meiner gesamten 22-jährigen Krankheitsgeschichte habe ich mich noch nie so verstanden gefühlt. Und für einen Moment ertappte ich mich bei dem Gedanken, was für eine Genugtuung es wäre, wenn jeder Mensch wenigstens einmal diese Erfahrung machen müsste. Sofort fühlte ich mich schlecht deswegen. Was würde das schon ändern? Nun ja, ich denke, ich würde im Alltag auf mehr Verständnis stoßen und weniger skeptische Blicke ernten, wenn ich jemandem migränedingt absagen muss.

Ein Kopfschmerztagebuch zu führen, hilft nicht nur dir, die Erkrankung besser zu verstehen. Es ist eine wichtige Grundlage für deine Behandlung

Das Kopfschmerztagebuch

Im Falle meiner Freundin handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine klassische Migräne ohne Aura – die häufigste Form der neurologischen Erkrankung. Etwa 80 bis 85 Prozent aller Betroffenen leiden unter den einseitigen, pochenden Schmerzen, die häufig von Licht- und Lärmempfindlichkeit sowie starker Übelkeit, Erbrechen und manchmal sogar Durchfall begleitet werden. Ich kenne diese Art von Attacken nur zu gut, doch Migräne ist nicht gleich Migräne. Im Laufe der Jahre habe ich mir viel Hintergrundwissen angeeignet, in der Hoffnung, eines Tages die Kontrolle über meine Anfälle gewinnen zu können. Das klappt leider nur bedingt, da sich schlichtweg nicht alle Trigger vermeiden lassen und mich die Migräne auch oft aus heiterem Himmel heimsucht. Trotzdem lohnt es sich, genauer hinzuschauen und seine Erkrankung über einen längeren Zeitraum zu dokumentieren. Die Grundlage dafür ist ein Kopfschmerztagebuch, das auch in der neurologischen Behandlung von großer Bedeutung ist, da sich nach einigen Monaten oft gewisse Muster abzeichnen. So fand ich beispielsweise schnell heraus, dass ich – neben anderen Formen – auch unter einer menstruellen Migräne leide, die jeden Monat exakt zwei Tage vor meiner Periode beginnt und etwa vier Tage lang anhält. Anders als bei meinen anderen Attacken, falle ich in diesem Zeitraum nicht komplett aus, da die Schmerzen unterschwelliger sind und nicht von Übelkeit und Erbrechen begleitet werden. Doch sie sind zermürbend, weil sie bis zu 96 Stunden anhalten und in meinem Fall weder Schmerztabletten noch Triptane etwas gegen sie ausrichten können. Dieses Muster zu erkennen, hat mir zwar nicht geholfen, der zyklusbedingten Schmerzphase etwas entgegenzusetzen – denn ohne hormonelle Verhütung kann ich gegen den Abfall meines Östrogenspiegels nichts tun. Doch die Erkenntnis hilft mir, meinen Alltag besser planen zu können. Sofern möglich, versuche ich seither, berufliche Deadlines und wichtige Meetings nicht in der Woche meiner Monatsblutung zu platzieren. Die Gefahr, kurzfristig absagen zu müssen, ist einfach zu groß. Dasselbe gilt für meine Freizeitgestaltung: Festivalbesuche und Wanderausflüge sind rund um die Periode eher keine gute Idee.

US-amerikanische Neurologen haben im Rahmen einer Studie festgestellt, dass das Migräne-Risiko beim Nachlassen des Stressniveaus um ein fünffaches erhöht ist. Mit anderen Worten: Entspannung löst Migräne aus.

Migräne dank Erholung

Doch das ist nicht das einzige Muster, das sich mithilfe eines Kopfschmerztagebuches erkennen lässt. Viele Auslöser sind uns im Alltag gar nicht bewusst, weil bei jedem Anfall eine Vielzahl von Triggern in Frage kommt und es uns schwerfällt, rückblickend Parallelen zu einer Migräne vor zwei Monaten zu ziehen. Beim Blick ins Kopfschmerztagebuch fällt es hingegen auf, wenn die Attacken zum Beispiel vermehrt am Wochenende oder zu Urlaubsbeginn auftreten. Ein Phänomen, das mir nur allzu bekannt vorkommt. Endlich ist das Großprojekt abgeschlossen und die wohlverdiente Auszeit gekommen – prompt wache ich am ersten freien Tag mit höllischen Kopfschmerzen auf und muss meine Freizeitpläne gegen ein verdunkeltes Zimmer und samt Kotzeimer tauschen. Was sich in dem Moment wie großes Pech anfühlt, zählt tatsächlich zu den häufigsten Migräne-Auslösern überhaupt. So haben US-amerikanische Neurologen vom Albert Einstein College of Medicine in New York im Rahmen einer Studie festgestellt, dass das Migräne-Risiko beim Nachlassen des Stressniveaus um ein fünffaches erhöht ist. Mit anderen Worten: Entspannung löst Migräne aus. Klingt paradox, erklärt jedoch, warum wir in Extremsituation meist einwandfrei funktionieren und die Quittung für unsere geistige oder körperliche Verausgabung meist erst im Anschluss bekommen. Dasselbe gilt für Sport. Während andere sich nach dem Training ausgepowert auf die Couch fallen lassen und das Gefühl genießen, etwas für ihre Gesundheit getan zu haben, enden meine Sporteinheiten häufig mit einer schweren Migräneattacke, die mich bis zu 24 Stunden außer Gefecht setzt. Ich werde also dafür bestraft, mich körperlich zu betätigen – wenn das mal nicht nach einer weiteren „Ausrede“ klingt. Wie unfair kann eine Erkrankung eigentlich sein? Tatsächlich ist sportbedingte Migräne weit verbreitet. Der Grund dafür ist die erhöhte Fettverbrennung, die zu einem Energiedefizit im Gehirn führt. Um dem vorzubeugen, ist es ratsam, sich beim Training nicht zu verausgaben, sondern die Kondition durch regelmäßige Ausdauersport-Einheiten langsam zu steigern. Wandern, Schwimmen oder Cardiotraining ist somit besser für Betroffene geeignet als Sprinten, Kraft- und Kampfsport.

Während andere sich nach dem Training ausgepowert auf die Couch fallen lassen und das Gefühl genießen, etwas für ihre Gesundheit getan zu haben, enden meine Sporteinheiten häufig mit einer schweren Migräneattacke, die mich bis zu 24 Stunden außer Gefecht setzt.

Die Mischung macht‘s

Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Migräne mir alles nehmen will, was Spaß macht. Schlimm genug, dass sie ausgerechnet in Erholungsphasen zuschlägt und mir regelmäßig den Sport vermiest. Aber damit nicht genug, denn sie hasst auch Partys – aber komischerweise nicht alle. So ist es schon vorgekommen, dass ich nach einer durchzechten Nacht topfit aus dem Bett gehüpft bin, während an anderen Tagen zwei kleine Bier ausreichten, um mich den gesamten nächsten Tag außer Gefecht zu setzen. Anfangs habe ich mir noch akribisch notiert, was ich getrunken habe, in der Hoffnung, den Übeltäter in Form eines Getränks zu identifizieren und künftig meiden zu können. Doch so sehr ich mich auch bemühte, meine Analysen ergaben einfach keinen Sinn. Mittlerweile weiß ich, dass der Alkohol an den schlechten Tagen nicht allein für die Katermigräne verantwortlich ist. Wie bei vielen anderen Triggern, gilt auch hier: Auf die Mischung kommt es an! So überlege ich es mir inzwischen zweimal, ob ich auf den Projektabschluss und die bevorstehende Erholungsphase wirklich mit einem Cocktail anstoßen will. Fällt der erste Urlaubstag dann auch noch mit dem ersten Tag meiner Periode zusammen: Finger weg vom Alkohol! Dasselbe gilt übrigens auch für schwüle Sommertage, an denen sich ein Gewitter am Himmel zusammenbraut – bei mir reicht manchmal sogar schon ein Saunabesuch und der Tag ist gelaufen. Ich könnte noch ewig so weitermachen, aber ich höre an dieser Stelle auf, euch von meinen Auslösern zu erzählen. Warum? Weil ihr jetzt an der Reihe seid. Es gibt zahlreiche Methoden, die eigene Migräne zu dokumentieren. Von einfachen Online-Listen zum Ausdrucken, über die Nutzung spezieller Apps, bis hin zu liebevoll gestalteten Migräne-Tagebüchern zum Ausfüllen, ist für alle Betroffenen das richtige Format dabei. Das tracken eurer Schmerzphasen wird diese zwar nicht verhindern können, doch ihr könnt sie lesen lernen und somit ein Stück weit voraussagen. Wie selbstermächtigend es sein kann, den eigenen Körper besser zu verstehen und drohende Gefahrenzonen wissend zu umschiffen, müsst ihr selbst herausfinden. Aber ich verspreche euch: Es lohnt sich und eure behandelnden Ärzt*innen werden sich freuen.

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Diana Ringelsiep

Journalistin, Autorin und Migräne-Patientin

Kolumne: #mittwochsistmigräne

Ich lebe seit über 20 Jahren mit Migräne und habe es mir zur Aufgabe gemacht hat, über die neurologische Erkrankung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Auf dass Betroffene sich weniger einsam und Angehörige weniger hilflos fühlen.

  • Jahrgang 1985
  • Kulturjournalistin, M. A. (2012)
  • Wohnhaft in Essen

www.diana-ringelsiep.de