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Junge Backpackerin auf Boot in Thailand. Thema: Migräne Junge Backpackerin auf Boot in Thailand. Thema: Migräne

Folge 19 – Rucksackreise mit Migräne

Aus dem Tagebuch einer Backpackerin

Unterwegs lauern jede Menge Trigger, die Kopfschmerzen begünstigen und zu schlimmen Migräne-Attacken führen können – vor allem beim Backpacking. Jetlag-bedingte Schlafrhythmusstörungen, tropische Temperaturen und körperliche Verausgabung summieren sich bei Betroffenen oft zu ungeahnten Herausforderungen. Umso wichtiger ist es, sich bereits im Vorfeld mit den Gegebenheiten vor Ort auseinanderzusetzen und entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Der ein oder andere Auslöser kann durch achtsames Reisen nämlich gezielt minimiert oder sogar ganz gemieden werden. Diana weiß, wovon sie redet, da sie gerade erst dreieinhalb Wochen mit dem Rucksack durch Thailand gereist ist. In ihrem neuen Text erfahrt ihr, inwiefern sie ihre Migräne bereits bei der Planung ihrer Reise berücksichtigt und worauf sie unterwegs geachtet hat.

Tropenstrände statt Wattenmeer

Weiße Strände, gebogene Palmen, funkelndes Meer – ich nehme einen Schluck aus meiner Kokosnuss und lasse den Blick über die kleinen Inseln schweifen, die hinter dem Riff aus dem türkisen Wasser ragen. Zwei Jahre lang habe ich von dieser Auszeit in Südostasien geträumt, dementsprechend schwer fällt es mir gerade zu realisieren, dass es nun endlich losgeht. Dreieinhalb Wochen Inselhopping im Golf von Thailand liegen vor mir: Koh Samui, Koh Phangan und Koh Tao stehen auf dem Programm. Die beiden letzteren Inseln sind nur mit dem Speedboat zu erreichen. Die Aussicht auf das anstehende Abenteuer beschert mir ein wohliges Kribbeln im Bauch. Doch während meine eigene Vorfreude zuhause mit jedem Tag gewachsen ist, zeigten sich in meinem Umfeld einige Leute skeptisch:

„Willst du dir die Strapazen mit deiner Migräne wirklich antun?“

„Die Hitze wird dir zu schaffen machen, fahrt besser an die Nordsee.“

„Muss es denn unbedingt eine Rucksackreise sein? Bucht doch lieber ein schickes Resort.“

Ich weiß, dass solche Einwände grundsätzlich gut gemeint sind, aber so schön es in Ostfriesland auch sein mag – wenn ich mich nach einer Rucksackreise durch die Tropen sehne, wird mich eine Wattwanderung nun mal nicht glücklich machen. Nirgends fühle ich mich so frei und ausgeglichen wie auf Reisen. Ich liebe es, unterwegs zu sein, andere Kulturen zu entdecken und in der Ferne fremde Orte zu erkunden. Ein mehrwöchiger Aufenthalt in ein und derselben Hotelanlage würde mich bloß deprimieren, weil ich das Gefühl hätte, eingesperrt zu sein und unfassbar viel zu verpassen. Dennoch haben die besorgten Menschen in einigen Punkten recht: Eine Rucksackreise kann einem einiges abverlangen. Angefangen beim schweren Gepäck, über stressige Situationen im Reisealltag (beispielsweise bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel), bis hin zu einer Vielzahl äußerer Reize, die sich größtenteils nicht vermeiden lassen. Dazu zählen unter anderem die starke Sonneneinstrahlung, der ungewohnte Verkehrslärm inklusive Smog, die schweißtreibende Luftfeuchtigkeit und vor allem die intensiven Gerüche, mit denen man unterwegs konfrontiert wird – Grüße gehen an dieser Stelle raus an alle Stinkfrucht-Stände.

Als Migränikerin sind problemlose Abläufe und kühle Rückzugsorte beim Backpacking für mich das A und O.

Berücksichtigung der Migräne in der Reiseplanung

Hinzu kommt, dass spätestens alle drei Tage die nächsten Etappen geplant, Transfers organisiert und neue Unterkunftsbedingungen ausgelotet werden müssen. Aber zumindest dabei kann eine gute Reisevorbereitung den Stress vor Ort minimieren und Betroffene vor fiesen Migräne-Quittungen bewahren. Spontanität gehört unterwegs für viele Individualreisende dazu, weil sie sich treiben lassen möchten und kurzfristig entscheiden wollen, wann die Reise wohin weitergeht. Früher habe ich es genauso gehandhabt, doch das führte nicht selten zu unnötigem Stress. Mehrfach klapperte ich nach einer kräftezehrenden Anreise die ansässigen Hotels auf der Suche nach einem Zimmer ab und spürte zunehmend die Panik in mir aufsteigen, wenn ich bei Einbruch der Dunkelheit noch nichts in Aussicht hatte. Das Resultat waren oft Kompromisse bei der Wahl der Unterkunft: Schlafsaal statt Doppelzimmer, Ventilator statt Klimaanlage oder ein Fenster zur lauten Straßen- statt zur ruhigen Meerseite. Meine heutigen – nahezu dekadenten – Ansprüche beim Backpacking sind auf den unnötigen körperlichen Stress zurückzuführen, dem ich in der Vergangenheit einige Migräne-Anfälle zu verdanken hatte. Deshalb mache ich in puncto Spontanität inzwischen deutliche Abstriche und plane meine Trips schon vor Reiseantritt weitestgehend durch, indem ich die meisten Unterbringungen bereits Monate im Voraus buche. Als Migränikerin sind problemlose Abläufe und kühle Rückzugsorte unterwegs für mich das A und O – außerdem lässt sich dank des Frühbucherrabatts sogar eine Menge Geld sparen. Dieser Kompromiss ermöglicht es mir, das Backpacking-Feeling durch die regelmäßigen Ortswechsel zu bewahren und gleichzeitig das Stresslevel sowie das Vorkommen böser Überraschungen auf ein Minimum zu reduzieren. Und hey, dank kostenloser Stornierungsoptionen muss trotzdem nicht die gesamte Reise in Stein gemeißelt sein.

Junge Backpackerin im Bustaxi in Thailand. Thema: Migräne

Wenn der Kopfschmerz-Vorhang trotzdem fällt

Ich will euch nichts vormachen, natürlich hat die Migräne auch während meiner Zeit in Thailand zugeschlagen. Dreimal um genau zu sein – von den „normalen“ Kopfschmerztagen ganz zu schweigen. So ist das nun mal: Einige Trigger lassen sich vermeiden, auf andere habe ich keinerlei Einfluss. Vor allem, wenn mehrere zusammenkommen. Leider hat meine Migräne ein Händchen für ungünstige Momente wie Ausflüge, Reisetage oder eben die Ankunft in der einzigen von elf Unterbringungen ohne Klimaanlage. Throwback: Wir erreichen also die besagte Villa hoch oben in den Bergen von Koh Tao. Unsere Terrasse ist von dichtem Dschungel umgeben und der Ausblick ist bombastisch. Vor unseren Augen erstreckt sich die gesamte Westküste der gerade mal sieben Kilometer langen Insel und ich ahne bereits, dass die Gewitterwolken, die sich am Horizont auftürmen nichts Gutes zu verheißen haben. Die tropische Schwüle erreicht an jenem Nachmittag einen neuen Höhepunkt, der Schweiß läuft mir in Bächen am Körper hinab und plötzlich nehme ich einen unterschwelligen Druck wahr, der sich langsam in meinem Kopf ausbreitet. Alarmiert versuche ich, die drohende Migräne abzuwenden, indem ich hastig zwei Liter Wasser trinke und mich bei offener Tür unter den Ventilator lege. Doch schon nach wenigen Minuten setzt das vertraute Ziehen im Nacken ein und das diffuse Licht blendet mich plötzlich so stark, dass ich im Bett liegend nach meiner Sonnenbrille taste. Kurz darauf wird mir schlecht und die drückende Luft macht es nicht gerade besser. Allein der Gedanke, sprechen zu müssen, strengt mich so an, dass ich zum Handy greife und meinen Mann per WhatsApp bitte, mir meine Notfallmedikamente zu reichen. Ich habe Glück: Nach etwa 20 Minuten schlagen Triptan und Übelkeitstablette an und ich falle in einen tiefen traumlosen Schlaf. Etwa drei Stunden später werde ich von den Rufen einer großen blau-gelben Eidechse geweckt, die über mir an der Decke hängt und zwischendurch nach Moskitos schnappt. Die untergehende Sonne hat den Himmel inzwischen lila gefärbt und das Zirpen der Zikaden ist ohrenbetäubend. Nass geschwitzt richte ich mich auf und halte kurz inne, als mir schwindelig wird. Dann atme ich auf: Der schmerzhafte Teil der Migräne scheint überstanden.

Nach der Full-Moon-Party setzte direkt die Migräne ein. War das vorhersehbar? Ja! War es das wert? Ja!

Betroffene müssen Prioritäten setzen

Wäre es angenehmer gewesen, die Migräne bei 20 Grad in einem abgedunkelten Hotelzimmer an der Nordsee zu überstehen? Ja.

Hätte ich den Anfall in heimischen Gefilden vermeiden können? Nein.

Dank meines Kopfschmerztagebuches weiß ich ziemlich genau, wie viele Schmerztage ich durchschnittlich pro Monat ertragen muss – und nach meiner dreieinhalbwöchigen Rucksackreise kann ich sagen, dass es in Thailand interessanterweise sogar weniger als zuhause waren. Dennoch verstehe ich, wenn andere lieber auf Nummer sicher gehen und sich der körperlichen Belastung einer solchen Reise nicht aussetzen wollen. Als betroffene Person muss man eben persönliche Prioritäten setzen. Das gilt für den Alltag gleichermaßen wie für den Urlaub. Ich frage mich daher vor besonderen Aktivitäten oft: Ist es das wert? Als wir auf Koh Phangan überlegt haben, spontan die berühmte Full-Moon-Party am anderen Ende der Insel zu besuchen, habe ich mich in dem Wissen, dass dabei etliche Trigger zusammenkommen werden, schließlich dafür entschieden. Kurz darauf sind wir auf der Ladefläche eines Pick-ups 45 Minuten lang durch den Dschungel gebrettert, um in Haad Rin mit rund 20.000 Menschen zu harten Technobeats zu feiern. Die legendäre Strandparty war ein einziges Spektakel: Überall fanden Feuershows statt, die Menge tanzte bei 30 Grad im Mondschein, der Gin-Tonic wurde in kleinen Eimern serviert. Es war überwältigend und ich entschied mich für die volle Experience. Ich tanzte, ich trank, ich lachte – bis wir fünf Stunden später erschöpft zurück auf die Ladefläche kletterten und die Rückreise durch den Dschungel antraten. Die Migräne setzte noch in derselben Nacht im Hotelzimmer ein.  

War das vorhersehbar? Ja.

War ich selbst schuld, weil ich es eigentlich besser wissen müsste? Ja.

War es das wert? Ja.

Junge Backpackerin fotografiert eine Bucht in Thailand. Thema: Migräne

Diana Ringelsiep

Journalistin, Autorin und Migräne-Patientin

Kolumne: #mittwochsistmigräne

Ich lebe seit über 20 Jahren mit Migräne und habe es mir zur Aufgabe gemacht hat, über die neurologische Erkrankung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Auf dass Betroffene sich weniger einsam und Angehörige weniger hilflos fühlen.

  • Jahrgang 1985
  • Kulturjournalistin, M. A. (2012)
  • Wohnhaft in Essen

www.diana-ringelsiep.de