#23
Junge Frau mit Wunderkerzen im Schnee, Silvester. Thema Migräne. Junge Frau mit Wunderkerzen im Schnee, Silvester. Thema Migräne.

Folge 23 – Migräne-Vorsätze fürs neue Jahr

Vor- und Nachteile des Silvester-Rituals

Nächstes Jahr wird alles besser. Die einen wollen abnehmen und auf eine gesunde Ernährung achten, die anderen wollen endlich mit dem Rauchen aufhören – so lautet zumindest der Plan. Der Gedanke, noch mal von vorne anfangen zu können, ist ja auch sehr verlockend. Der Kalender ist noch leer und unbefleckt. Keine Spuren gescheiterter Vorhaben, noch keine verzeichneten Misserfolge. Was dabei viele Menschen ausblenden, sind unzählige Alltagsfaktoren, die ihnen früher oder später dazwischenfunken werden. Dinge, die sie nicht beeinflussen können. Daher ist vor allem bei guten Vorsätzen, die der Migräne entgegenwirken sollen, Vorsicht geboten. Warum sie trotzdem hilfreich sein können, darüber hat sich Diana für uns Gedanken gemacht.

Braucht Veränderung ein Feuerwerk?

Eigentlich habe ich schon vor langer Zeit aufgehört, mir anlässlich bevorstehender Silvesternächte ambitionierte Ziele zu setzen. Klar, es ist ein schöner Brauch, mit einem positiven Mindset ins neue Jahr zu starten, aber wie groß stehen die Chancen, sie auch wirklich in die Tat umzusetzen? Seien wir ehrlich: In der Regel sind es keine „neuen“ Ideen, die wir verwirklichen wollen, sondern Vorhaben, mit denen wir bereits mehrfach gescheitert sind. Und dafür gibt es meist einen guten Grund. Zum Beispiel, weil wir nach Feierabend schlichtweg zu müde sind, um zum Sport zu gehen. Oder weil wir zum 26. Mal feststellen, dass Trennkost und Intervallfasten in der Theorie einfach besser funktionieren. Es ist doch so: Was wir wirklich verändern möchten, können wir auch im Juni oder September in Angriff nehmen. Dafür braucht es kein Feuerwerk um Mitternacht. Doch ihr habt richtig gelesen: Mein Text beginnt mit dem Wort „eigentlich“. Denn ein Thema hat mich in den letzten Jahren dann zwischendurch doch wieder gute Vorsätze formulieren lassen: meine Migräne. Klingt erst mal widersprüchlich, schließlich kann ich mir ja nicht einfach vornehmen, weniger Schmerzen zu haben und – Schwupps – gehört die Erkrankung der Vergangenheit an. Es sind eher die kleinen vernachlässigten Stellschrauben, die ich pünktlich zum neuen Jahr festzurren will. Kleine prophylaktische Maßnahmen, von denen ich mir erhoffe, dass sie Großes bewirken können, wenn ich nur konsequenter bin. Mein Schlaf-Wach-Rhythmus ist so ein Thema – warum schaffe ich es unter der Woche nicht, wie ein normaler Mensch, um 22 Uhr ins Bett zu gehen? Warum nutze ich im Büro nicht wenigstens das Laufband, das ich mir in der Pandemie angeschafft habe, um auf die propagierten 10.000 Schritte zu kommen? Und warum erinnern mich meine Kopfschmerztagebücher am Jahresende immer an meine Hausaufgabenhefte aus der Schule, die anfangs noch super akkurat geführt und dann immer chaotischer wurden, weil erst die bunten Überschriften und schließlich ganze Aufgaben fehlten?

Umfragen zufolge halten sich die Erfolgsaussichten von Neujahrsvorsätzen in Grenzen. Es stresst uns, den eigenen Selbstoptimierungsansprüchen nicht standzuhalten.

Neues Jahr, neues Glück

Aber wo kommt der Brauch, sich an Silvester neue Ziele zu setzen, überhaupt her? Um das direkt vorwegzunehmen: Historiker*innen haben bisher keine klare Antwort darauf gefunden. Fest steht jedoch, dass es ähnliche Rituale schon im Römischen Reich gegeben hat und sogar im alten Babylon sollen die Menschen bereits vor 4.000 Jahren den Göttern beim Neujahrsfest versprochen haben, sich zu bessern. Bei einer Umfrage des Portals Statistica gab knapp die Hälfte der Befragten an, gute Vorsätze fürs neue Jahr zu haben. Die ersten drei Plätze belegen die Ambitionen, mehr Sport zu treiben, mehr Geld zu sparen und sich gesünder zu ernähren. Aber auch weniger Stress, mehr Zeit für Freund*innen und Familie, Gewichtsabnahme und ein größeres Umweltbewusstsein stehen hoch im Kurs. Auf meine Migräne bezogen, stechen mir da direkt mehrere Parallelen ins Auge. Schließlich ist Stress einer der Hauptauslöser von Migräneanfällen, außerdem können regelmäßige Bewegung und eine ausgewogene Ernährung Kopfschmerzattacken entgegenwirken. Grundsätzlich scheint also erst mal nichts dagegen zu sprechen, genau da anzusetzen. Die Frage ist nur: Wie realistisch ist es, diese Ziele auch in die Tat umzusetzen? Umfragen zufolge halten sich die Erfolgsaussichten von Neujahrsvorsätzen leider in Grenzen. Eine Studie, für die 2019 rund 800 Millionen Aktivitäten der Fitness-App Strava ausgewertet wurden, hat ergeben, dass fast 80 Prozent der sportbezogenen Neujahrsvorsätze bereits vor dem 19. Januar wieder aufgegeben wurden. Mit der Resignation geht in den meisten Fällen auch ein Gefühl des Versagens einher, was uns wiederum unter Druck setzt. Oder anders ausgedrückt: Es stresst uns, den eigenen Selbstoptimierungsansprüchen nicht standzuhalten. Herzlich Willkommen im Teufelskreis! Die Gründe dafür, dass so viele Vorhaben ins Leere laufen, sind vielfältig. Wir neigen beispielsweise dazu, uns einen Idealzustand herbeizusehen, ohne dabei die realen Bedingungen zu berücksichtigen. Natürlich wäre es schön, jeden Tag eine Brotdose mit Rohkost-Fingerfood mit ins Büro zu nehmen, alle Strecken unter drei Kilometern zu Fuß zu gehen und süchtig nach den Endorphinen zu werden, die wir beim Feierabend-Workout ausschütten. Aber im Alltag kommen nun mal zahlreiche kleine und große Hürden dazu.

Reality-Check: Sind meine Neujahrsvorsätze machbar?

Junge Frau im Schnee, baut Schneemann. Thema: Migräne.

Dabei handelt es sich meist um unscheinbare Gründe, die in dem Moment plötzlich gegen die Umsetzung sprechen. Dazu zählt unter anderem der Zeitdruck, der uns im Alltag stets begleitet. Es ist der gehetzte Blick auf die Uhr, der uns morgens daran hindert, mundgerechte Kohlrabi-Stückchen für die Snackbox vorzubereiten und der uns schnell in die U-Bahn springen lässt, anstatt zu Fuß zu gehen. Und dann sitzen wir wenig später im Büro, beißen in das Käsebrötchen mit Remoulade, das wir uns noch schnell beim Bäcker geholt haben, und schämen uns dafür, so undiszipliniert zu sein. Doch damit sind wir nicht allein, im Gegenteil, tatsächlich geht es den meisten Menschen so. In Wahrheit ist es nämlich weniger die Disziplin, an der wir scheitern, sondern die Machbarkeit. Wenn wir Silvester beim Käsefondue zusammensitzen und uns ausmalen, wie das neue Jahr aussehen könnte, neigen wir dazu, Dinge zu vereinfacht darzustellen. Wir setzen zum Beispiel voraus, immer pünktlich Feierabend machen zu können und nehmen uns vor, die Abende künftig produktiver zu nutzen – zum Kochen, für regelmäßige Sporteinheiten oder spontane Treffen mit Freund*innen. Doch wir vergessen, dass unser Alltag oft von unzähligen Ausnahmen geprägt ist: Überstunden, Arzttermine, Schienenersatzverkehr, Erkältungen, Geburtstage – und eh wir uns versehen, werfen wir alle guten Vorsätze über Bord und denken: „Das schaff ich heute nicht.“ Ganz zu schweigen von den Tagen, an denen zwar alles nach Plan verläuft, wir aber einfach keine Lust haben. Klar, das darf nicht zur Regel werden, doch wenn wir gerade viel um die Ohren haben, sind auch Auszeiten auf der Couch hilfreich, um die Akkus wieder aufzuladen. Gerade als Migränikerin muss ich aufpassen, mir durch ambitionierte Tagesabläufe nicht zu viel zuzumuten. Es gibt einen Unterschied zwischen einer guten Planung – die den Tag strukturiert, aber auch Pausen und Erholungsphasen berücksichtigt – und endlosen To-Do-Listen, die zum Scheitern verurteilt sind. Daher ist es unerlässlich, beim Käsefondue mal kurz in sich zu gehen und die guten Vorsätze einem Reality-Check zu unterziehen.

Es ist weniger die Disziplin, an der unsere Neujahrsvorsätze scheitern, sondern die Machbarkeit. Wir vergessen oft, dass unser Alltag von unzähligen Ausnahmen wie Überstunden und Schienenersatzverkehr geprägt ist.

Optimismus statt Leistungsdruck

Dass ich ausgerechnet in puncto Migräne dazu neige, Neujahrsvorsätze zu formulieren, ist gleichermaßen bescheuert wie verständlich. Nach fast 25 Jahren Leidensweg weiß ich natürlich, dass es sich um eine unheilbare neurologische Erkrankung handelt und dass ein Silvesterbrauch nichts daran ändern wird. Auf der anderen Seite neigen wir Menschen nun mal dazu, in besonders hoffnungslosen Situationen an eine höhere Macht zu glauben, dank der sich alles zum Guten wenden wird. Die einen finden Trost im kirchlichen Glauben, andere essen Globuli und ich mag die Idee, dass ich mich bloß an meine guten Vorsätze halten muss, um meine Situation zu verbessern. Daran ist auch nichts auszusetzen, Hoffnung tut schließlich gut, solange die gesetzten Ziele nicht den Druck und das Stresslevel erhöhen. Deshalb lohnt es sich, neben der Machbarkeit, auch die Formulierung der Vorsätze genauer unter die Lupe zu nehmen. Ein Team von Forschenden der Universitäten Stockholm und Linköping hat 2017 genau das getan und 1066 Freiwillige bei der Umsetzung ihrer Neujahrsvorsätze begleitet. Dabei kam heraus, dass annäherungsorientierte Vorsätze häufiger von Erfolg gekrönt sind als meidungsorientierte Vorsätze. Das heißt: „Ich möchte mich gesünder ernähren“ funktioniert besser als „Ich möchte aufhören, Fertigprodukte zu essen“. Außerdem bestätigte die Studie, dass unrealistische Ziele und abstrakte, unklare Formulierungen zum Erfinden von Ausreden und dem Scheitern der Vorsätze beitragen. Daher lautet die Empfehlung der Forschenden, sich realistische, spezifische und messbare Vorsätze zu setzen und diese nach Möglichkeit sogar mit Gruppendruck oder Belohnungen zu verbinden. Auch das Öffentlichmachen in den Sozialen Medien soll zum Erfolg beitragen. (Ich hoffe diese Kolumne zählt auch.) Also bitteschön, hier meine Vorsätze für 2025:

  1. Ich möchte mindestens einmal pro Woche ein neues Rezept ausprobieren, um meine Essgewohnheiten zu verändern und mehr Abwechslung in den Speiseplan zu bringen.
  2. Ich nehme mir jeden Montag zehn Minuten Zeit, um meine Handynotizen ins Kopfschmerztagebuch zu übertragen, solange die Erinnerungen noch frisch sind.
  3. Ich werde mir eine*n Sport-Partner*in suchen, um im Zugzwang zu sein – und wer absagt, muss 10 Euro in die Belohnungskasse werfen, aus der wir zum nächsten Jahresabschluss einen gemeinsamen Restaurantbesuch bezahlen.

Quellen:

Diana Ringelsiep

Journalistin, Autorin und Migräne-Patientin

Kolumne: #mittwochsistmigräne

Ich lebe seit über 20 Jahren mit Migräne und habe es mir zur Aufgabe gemacht hat, über die neurologische Erkrankung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Auf dass Betroffene sich weniger einsam und Angehörige weniger hilflos fühlen.

  • Jahrgang 1985
  • Kulturjournalistin, M. A. (2012)
  • Wohnhaft in Essen

www.diana-ringelsiep.de