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junge Frau schaut beim Frühstück auf ihr Smartphone. Thema Migräne junge Frau schaut beim Frühstück auf ihr Smartphone. Thema Migräne

Folge 20 – Tipps gegen Migräne

Die Auswirkungen „gut gemeinter“ Ratschläge

Dass Menschen, die selbst nicht von Migräne betroffen sind, sich besser mit Ratschlägen zurückhalten sollten, leuchtet ein. Schließlich wissen sie nicht, wie es ist, dieser ständigen Belastung ausgesetzt zu sein. Zudem bringen Hinweise auf die naheliegendsten Lösungen Betroffene oft in eine Rechtfertigungshaltung, weil sie sich infolgedessen erklären müssen. Zum Bespiel dahingehend, was sie im Laufe der Jahre bereits alles ausprobiert haben und welche Optionen ihnen bekannt sind. Anders verhält es sich jedoch, wenn der wohlwollende Tipp von jemandem kommt, der (oder die) selbst mit heftigen Attacken oder chronischen Kopfschmerzen lebt. In ihrem neuen Beitrag erklärt Diana, warum vor allem die Ratschläge ihrer Leidensgenoss*innen fatale Auswirkungen haben können.

Lifehacks aus dem Netz

Letzte Woche wurde mir bei Instagram ein Video angezeigt, in dem die beiden Podcasterinnen Sophia Thiel und Paula Lambert sogenannte Lifehacks ausgetauscht haben. Sprich, kleine Kniffe, die uns das Alltagsleben erleichtern können. Zu meiner Überraschung wusste die Journalistin und Fernsehmoderatorin Paula Lambert in dem besagten Gesprächsausschnitt folgendes zu berichten:

„Es gibt einen einfachen Hack für eine Durchschnittsmigräne und zwar: Ihr nehmt ne Schüssel und schüttet heißes Wasser rein. Das Wasser muss so heiß sein, dass ihr es gerade so aushaltet, drin zu stehen. Und dann, wenn ihr einen Migräneanfall habt, stellt ihr euch mit beiden Füßen in dieses ultra-ultra heiße Wasser, natürlich nicht kochend – logischerweise – ihr sollt euch nicht verbrühen, sondern es gerade so ertragen. Und was dann passiert, ist, dass unten sich alle Adern weiten, explosionsartig, und der Druck aus dem Kopf verschwindet. Versucht es, glaubt mir, es ist absolut gigantisch!“

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, weil so ziemlich alles daran problematisch ist. Deshalb möchte ich anhand dieses Beispiels heute gerne aufzeigen, warum wir auch als Betroffene vorsichtig bei unserer Wortwahl sein sollten und entsprechende Tipps niemals verallgemeinern dürfen. Los geht’s bereits mit dem Begriff „Durchschnittsmigräne“. Wie soll so eine Durchschnittsmigräne denn bitte aussehen? Schließlich gibt es unzählige Auslöser, Ausprägungen und individuelle Symptome, die bei allen Betroffenen anders ausfallen können. Während einige vor allem geruchs- und lärmempfindlich reagieren, müssen sich andere nonstop übergeben. Und während bei einer Bekannten bereits ein Ingwer-Shot helfen kann, gibt es bei mir Tage, an denen nicht mal Triptane anschlagen. Ganz zu schweigen davon, dass sich eine Migräne auch im Laufe des Lebens verändert und ich nicht mal sagen könnte, wie meine persönliche Durchschnittsmigräne aussieht.

Es gibt keine Durchschnittsmigräne, sondern unzählige Auslöser, Ausprägungen und individuelle Symptome, die bei allen anders ausfallen.

Warum es keine Durchschnittsmigräne gibt

Einigen mag diese Wortklauberei jetzt vielleicht übertrieben erscheinen, aber es gibt einen Grund dafür, dass mich diese Formulierung auf die Palme bringt. Menschen haben nämlich das Bedürfnis, sich mit anderen zu vergleichen, um sich selbst besser einordnen zu können. In anderen Lebensbereichen kann das durchaus positive Auswirkungen haben. Wenn wir beispielsweise eine Freundin haben, mit der wir regelmäßig ins Fitnessstudio gehen, kann es uns anspornen, wenn sie mehr Wiederholungen an der Beinpresse schafft. Und auch im Berufsleben kann es hilfreich sein, sich mit anderen zu vergleichen – zum Beispiel, um herauszufinden, ob eine Gehaltserhöhung oder mehr Urlaubstage angemessen wären. Doch in puncto Migräne können wir im direkten Vergleich mit anderen nicht gewinnen. Entweder deprimiert uns der Gedanke, schlimmer dran zu sein. Oder wir stellen mit Schrecken fest, wie hart es andere getroffen hat und haben Angst, eines Tages auch an diesen Punkt zu kommen. Die „Durchschnittsmigräne“, von der Paula Lambert in ihrem Podcast spricht, führt zwangsläufig dazu, dass sich Betroffene fragen, wo sie sich auf einer Migräne-Skala von 1 bis 10 einzuordnen haben. Gar nicht so leicht, weil man die Kopfschmerzen der anderen ja noch nie gefühlt hat. Aber da es in der Regel immer jemanden gibt, der besser oder die schlechter dran ist als man selbst, liegt die Vermutung erst mal nahe, selbst dem Durchschnitt anzugehören. Jackpot! Denn wenn es dieser berühmten Fernsehmoderatorin hilft, ihre Füße während eines Anfalls in heißes Wasser zu halten, dann stehen die Chancen offenbar gut, dass dieser Trick auch bei einem selbst funktioniert – oder etwa nicht? Also ja, es mag etwas pedantisch wirken, wie sehr ich auf dem von ihr verwendeten Begriff herumreite. Aber die Kettenreaktion, die sie damit in den Köpfen vieler Betroffener auslöst, ist für die meisten Migräniker*innen mit Stress und einer Verstärkung des ohnehin vorhandenen Leidensdruckes verbunden. Umso wichtiger erscheint die Frage, ob der besagte Lifehack tatsächlich funktioniert.

junge Frau schaut beim Frühstück auf ihr Smartphone. Thema Migräne

Kann ein heißes Fußbad bei Migräne helfen?

Die Idee, dass sich durch das heiße Wasser die Gefäße weiten und das Blut vom Kopf in die Füße sackt, ist nicht neu. Die TikTokerin Andrea Eder hat beispielsweise schon vor über einem Jahr darauf geschworen und inzwischen 2 Millionen Likes dafür erhalten. Aber was ist dran, an dem Trick, der online immer wieder für Aufsehen sorgt? Prof. Dr. Hartmut Göbel, Facharzt für Neurologie an der Schmerzklinik Kiel, bezeichnete den Trend gegenüber Deutschlandfunk Nova damals als „Unsinn“. Und das aus gutem Grund: Migräne entsteht aufgrund akuter Entzündungen im Gehirn. Aus medizinischer und biologischer Sicht kann ein Fußbad darauf keinen Einfluss nehmen. Jedoch verweist der Neurologe auf den Placebo-Effekt, da in manchen Fällen allein der Glaube an ein Medikament – oder in dem Fall an das Experiment – zu einer Schmerzlinderung führen könne. Allerdings bezweifelt er auch, dass diejenigen, die mit den Füßen in der Badewanne ein Video aufnehmen, gerade wirklich unter einer Migräneattacke leiden. Verständlich, zumal ich es während eines Anfalls oft nicht mal schaffe, die Hand nach dem Triptan auf dem Nachttisch auszustrecken. Ich kann mir daher durchaus vorstellen, dass ein heißes Fußbad dank des Placebo-Effektes, oder aufgrund des Gegenschmerz-Prinzips, bei Spannungskopfschmerzen helfen kann. Selbst bei Migräne sehne ich mich manchmal nach Wärme oder Kälte im Nacken und empfinde das in dem Moment als wohltuend. Doch ein Fußbad als lebensverändernde Maßnahme für Migräniker*innen zu verkaufen, wie es Andrea Eder in ihrem TikTok-Video gemacht hat, halte ich in mehrfacher Hinsicht für grob fahrlässig. Hauptsächlich, weil dabei mit den Hoffnungen von Menschen gespielt wird, die mit dieser schwerwiegenden und unheilbaren Erkrankung leben müssen. Nach über 20 Jahren Migräne kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass meine Verzweiflung oft so groß ist, dass ich nach jedem Strohhalm greife. Und es gibt kaum ein desillusionierenderes und ernüchternderes Erlebnis, als den Moment, in dem sich eine neue Hoffnung als weitere Sackgasse herausstellt.

In puncto Migräne können wir im direkten Vergleich mit anderen Betroffenen nicht gewinnen.

Warum Migräne-Mythen Vorurteile verstärken

Dass höchstwahrscheinlich auch viele nicht diagnostizierte Leute für ein paar Klicks auf diesen Trend in den Sozialen Medien aufspringen, macht mich wütend. Denn es macht einen Unterschied, ob du hin und wieder mal unter Spannungskopfschmerzen leidest oder ob die Migräne dein Leben bestimmt. Im Wartezimmer meiner Neurologin bin ich in der Vergangenheit bereits mit mehreren Patientinnen ins Gespräch gekommen, die sich aufgrund ihrer Migräne schon mal das Leben nehmen wollten. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie viele „Tipps“ sich in ihrer Vergangenheit bereits als nutzlos herausgestellt haben. Bleibt noch ein letzter Aspekt, den vermutlich auch Paula Lambert unterschätzt hat, als sie von der „gigantischen“ Wirkung des Fußbades schwärmte – nämlich die kräftezehrenden Gespräche, denen sich Betroffene im Alltag oft stellen müssen.

„Ach du hast Migräne? Hast du schon mal CBD-Öl ausprobiert? Meine Schwägerin schwört ja auf Yoga. Hast du auch schon von dem Migräne-Piercing gehört? Mach dir beim nächsten Mal einen Spritzer Zitrone in den Kaffee. Wirkt Wunder!“

Wann immer von einem neuen Wundermittel die Rede ist, speichern Nicht-Betroffene die angebliche „Geheimwaffe“ als potenziellen Ratschlag ab. Dabei blenden sie aus, dass die Betroffenen zum Teil bereits seit Jahrzehnten im Thema sind und mittlerweile sehr gut einschätzen können, welche Methoden bei ihrer individuellen Migräne einen Versuch wert sind und welche nicht. Können die Ratgebenden in diesen Situationen daher nicht mit den „neuesten Erkenntnissen“ glänzen, kippt oft die Stimmung in Richtung „selbst schuld“. Und ich kann euch versichern, es nervt gewaltig, wenn mir mal wieder jemand erklären will, dass ich bezüglich meiner Migräne nicht ganz up to date sei. Aber noch schlimmer ist das Gaslighting, wenn mein Gegenüber mir das Gefühl gibt, im Kampf gegen die Migräne nicht alles zu geben. Und genau deshalb ist es wichtig, dass wir in puncto Erkrankungen auf Verallgemeinerungen verzichten – um anderen keine falschen Hoffnungen zu machen und sie nicht in eine Rechtfertigungshaltung zu bringen. Es freut mich für Paula Lambert, wenn der Placebo-Effekt bei ihr Wirkung zeigt und ein heißes Fußbad ihre Kopfschmerzen lindert. Aber als Journalistin sollte sie diese Erfahrung auch genauso einordnen und diesen „Lifehack“ nicht als Geheimtipp gegen Migräne verkaufen.

Diana Ringelsiep

Journalistin, Autorin und Migräne-Patientin

Kolumne: #mittwochsistmigräne

Ich lebe seit über 20 Jahren mit Migräne und habe es mir zur Aufgabe gemacht hat, über die neurologische Erkrankung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Auf dass Betroffene sich weniger einsam und Angehörige weniger hilflos fühlen.

  • Jahrgang 1985
  • Kulturjournalistin, M. A. (2012)
  • Wohnhaft in Essen

www.diana-ringelsiep.de