Folge 3 – Schmerz und Vorurteil
Warum Migräne ein Image-Problem hat
Kaum eine andere Erkrankung hat einen so schlechten Ruf wie Migräne. Aber warum eigentlich? Einerseits fallen Betroffene oft kurzfristig aus, was die Planung für Arbeitgebende und Angehörige nicht gerade einfach macht. Andererseits wird Migräne von Unwissenden auch nicht selten als Ausrede genutzt, um Verpflichtungen und unliebsame Aufgaben spontan absagen zu können. Ein Phänomen, unter dem vor allem diejenigen leiden, die tatsächlich mit der neurologischen Erkrankung leben müssen. Das Gefühl, nicht ernstgenommen zu werden, wenn sich eine Attacke anbahnt, steigert nämlich sowohl die eigene Hilflosigkeit als auch die Angst, anderen zur Last zu fallen. Diesmal beschäftigt Diana sich daher mit der Frage, wie Betroffene mit Vorurteilen umgehen können.
Das Hollywood-Image
Ich glaube, wir alle haben schon mal eine Filmszene gesehen, die in etwa wie folgt aussah: Ein Mann legt sich zu seiner Freundin ins Bett, die gerade in ein Buch vertieft ist und er beginnt sie zu küssen. Doch sie kann sich nicht von ihrem Roman losreißen und sagt: „Heute nicht, Schatz. Ich habe wieder meine Migräne.“ Es sind beiläufige Szenen wie diese, die Betroffenen im Alltag das Leben schwermachen. Denn sie festigen das „Kein Bock“-Narrativ, auf dem zahlreiche Vorurteile beruhen, die Erkrankte im Alltag belasten. Wer selbst mit Migräne lebt oder zumindest mal dabei war, als eine angehörige Person von einer Attacke heimgesucht wurde, weiß, worauf ich hinauswill: Kein Mensch liest während eines Anfalls ein Buch und lächelt dabei!
Meine Gedanken drehen sich ausschließlich um den alles einnehmenden Schmerz in meinem Kopf. Wie gelähmt liege ich da und weiß nicht, wie ich an meine Tabletten herankommen soll – auch wenn sie bloß eine Armlänge entfernt auf meinem Nachtschränkchen liegen.
Überlebensmodus
Sobald die pulsierenden Schmerzen über mich hereinbrechen, ist Lesen so ziemlich das letzte, worauf ich mich konzentrieren könnte. Allein die Vorstellung, mich während eines Anfalls auf die tanzenden Buchstaben zu fokussieren, löst Übelkeit in mir aus. Meine Gedanken drehen sich in diesem Moment ausschließlich um den alles einnehmenden Schmerz in meinem Kopf. Wie gelähmt liege ich da und weiß nicht, wie ich an meine Tabletten kommen soll – auch wenn sie bloß eine Armlänge entfernt auf meinem Nachtschränkchen liegen. So sehr ich sie auch brauche, ich schaffe es einfach nicht, mich auf die Seite zu drehen und nach der Packung zu greifen. Jeder Millimeter Bewegung rächt sich mit nur einer Sekunde Verzögerung durch ein unerträgliches Stechen hinter der Schläfe. Wie eine heiße Stricknadel bohrt sich der pulsierende Schmerz dort in mein Gehirn hinein. Immer und immer wieder. Wenn ich Glück habe, kommt mein Partner irgendwann zufällig herein und erkennt meine missliche Lage, denn rufen kann ich ihn nicht. Inzwischen weiß er, was zu tun ist: Schweigend zieht er die Vorhänge zu und legt mir die Tabletten in den Mund. Dann stützt er meinen Kopf und führt ein Glas Wasser an meine Lippen, damit ich sie herunterschlucken kann. Bedanken kann ich mich nicht, dafür ist der Schmerz so kurz nach der Einnahme zu schrill. Stattdessen schließe ich die Augen und verharre in einer verkrampften Haltung, bis nach 40 bis 60 Minuten die Wirkung einsetzt und der erlösende Schlaf eintritt – sofern die Medikamente anschlagen.
Die „perfekte“ Ausrede
Filmszenen wie die eingangs beschriebene sind für Migränepatient*innen ein Schlag ins Gesicht. Sie verharmlosen die neurologische Erkrankung nicht nur, sondern bringen die Leidtragenden obendrein in eine unangenehme Rechtfertigungshaltung. Ich kenne das tiefe Durchatmen, wenn ich mal wieder jemandem absagen muss. Das leichte Augenrollen, wenn ich aufgrund eines aufziehenden Kopfschmerzgewitters früher Feierabend machen oder ein Konzert bereits nach dem dritten Song verlassen muss. Es macht mir keinen Spaß, ständig die unbekannte Variable X im Team zu sein. Wenn ich zwischen Überstunden und Migräne wählen könnte, würde ich mich mit Kusshand für erstere entscheiden. Deshalb macht es mich wütend, wie die Erkrankung in der Unterhaltungsindustrie dargestellt wird. Und zwar nicht nur in Spielfilmen. Bei der Recherche für diese Kolumne bin ich unter anderem auf einen InStyle-Artikel mit dem Titel „Doch keine Lust? 10 geniale Ausreden, um ein Date abzusagen“ gestoßen. Dreimal dürft ihr raten, welche „geniale Ausrede“ die Liste anführt: Eine „plötzliche“ Migräne. Und damit nicht genug. In Erich Kästners Kinderbuch „Pünktchen und Anton“ aus dem Jahr 1931 heißt es: „Nach dem Mittagessen kriegte Frau Direktor Pogge Migräne. Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat.“ Kein Wunder, dass die chronischen Schmerzattacken unter einem akuten Image-Problem leiden. Schließlich wird Migräne in Zeitschriften, Filmen und Fernsehen seit Jahrzehnten als beliebte Ausrede sprunghafter Personen präsentiert, die es sich kurzfristig anders überlegt haben und ihr Umfeld hängen lassen. Anders ausgedrückt: Migräne wird in der Unterhaltungsbranche medienübergreifend als Lüge unzuverlässiger Menschen inszeniert, weshalb sich das Mitgefühl auch für reale Betroffene in Grenzen hält.
Der gesellschaftliche Anspruch, als Arbeitskraft und Privatperson funktionieren zu müssen, führt bei Erkrankten zu einem hohen sozialen Druck. Anstatt sich so früh wie möglich hinzulegen, um sich äußeren Reizen wie Licht, Lärm und Gerüchen zu entziehen, hoffen viele auf falschen Alarm, um niemanden enttäuschen zu müssen.
Von wegen bewegen
Eine 2018 von der Pharmafirma Eli Lilly in Auftrag gegebene Studie befasst sich unter anderem mit der Stigmatisierung, die Migräne-Patient*innen erfahren. Dabei kam heraus, dass 45,4 Prozent der 2.000 Befragten der Meinung sind, dass sich Migräne leicht behandeln ließe. 35,5 Prozent glauben sogar, dass die Betroffenen aufgrund eines „ungesunden Lebensstils“ selbst an ihrer Erkrankung Schuld seien. „Geh doch mal ein paar Schritte an die frische Luft, du musst dich bewegen“, heißt es infolgedessen dann oft. Ganz zu schweigen von dem Mythos, dass angeblich auch Sex gegen Migräne helfen soll. Was bei leichten Spannungskopfschmerzen vielleicht sogar funktionieren mag, kann die Beschwerden bei einem Migräneanfall jedoch drastisch verschlimmern. Selbst kleinste körperliche Aktivitäten – vollkommen egal, welcher Art – verstärken die Schmerzen enorm und können unmittelbar Begleiterscheinungen wie Übelkeit und Erbrechen herbeiführen. Dass den Betroffenen eine nahende Attacke zu Beginn meist noch nicht anzusehen ist, kommt erschwerend hinzu, da ihre Glaubwürdigkeit deshalb einmal mehr in Frage gestellt wird. Dabei ist gerade anfangs schnelles Handeln gefragt, da ein abgedunkelter Rückzugsort und die rechtzeitige Einnahme von Medikamenten sowohl die Dauer als auch die Schwere des Anfalls maßgeblich beeinflussen kann. Der gesellschaftliche Anspruch, als Arbeitskraft und Privatperson immer funktionieren zu müssen, führt bei Erkrankten oft zu einem hohen sozialen Druck. Anstatt sich so früh wie möglich hinzulegen, um sich äußeren Reizen wie Licht, Lärm und Gerüchen zu entziehen, hoffen viele auf „falschen Alarm“, um niemanden enttäuschen zu müssen.
Vorurteile abbauen
Mir geht es da nicht anders. Auch ich habe schon oft eine Tablette genommen und mich „zusammengerissen“, um nicht schon wieder auszufallen. Doch aufgegangen ist dieser Plan so gut wie nie. Im Gegenteil, oft eskalierte die Migräne daraufhin erst recht und der nächste Tag war ebenfalls gelaufen. Entgegen der weit verbreiteten Meinung bringt es daher gar nichts, sich zusammenzureißen. Für wen denn auch? Wer den sozialen Druck reduzieren will, muss zu anderen Methoden greifen. Letztendlich kann ich nur für mich sprechen, aber mir hat es geholfen, transparent mit meiner Erkrankung umzugehen. Früher habe ich mich dafür geschämt, mich zum dritten Mal in Folge wegen Migräne krankzumelden oder kurzfristig eine Verabredung abzusagen. Manchmal habe ich mir sogar eine alternative Krankheit als Ausrede einfallen lassen, aus Angst, dass mein Gegenüber meine tatsächliche Erkrankung für eine Ausrede halten könnte. Klingt paradox, oder? Doch es zeigt, wie groß meine Angst gewesen ist, aufgrund von Stigmatisierungen nicht ernstgenommen zu werden. Inzwischen gehe ich offen mit meiner Migräne um – beruflich wie privat. Und siehe da: Das Interesse an meiner Erkrankung wächst mit jedem Gespräch und somit auch das Verständnis mir gegenüber. Letztendlich ist es doch so: Wir können nicht darauf warten, das Hollywood aufhört, Migräne als Ausrede zu inszenieren. Aber wir können selbst dafür sorgen, dass die Menschen in unserem Umfeld ihre Vorurteile hinterfragen und Migräne endlich als eine komplexe neurologische Erkrankung begreifen. Wir müssen bloß miteinander sprechen.
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