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Junge Frau mit Kopfschmerzen sitzt im Bett und schaut eine Tablette an. Thema chronische Migräne Junge Frau mit Kopfschmerzen sitzt im Bett und schaut eine Tablette an. Thema chronische Migräne

Folge 14 – Chronische Migräne

Wenn der Schmerz bleibt

Für gewöhnlich ist Migräne unberechenbar. Sie kommt plötzlich und setzt die Geplagten meist über Stunden außer Gefecht, bevor sie schließlich wieder abklingt und bestenfalls zwei Tage später vergessen ist. Aber was, wenn die Kopfschmerzen nicht mehr verschwinden und die episodische Migräne zu einer chronischen wird? Bei einigen Patient*innen nehmen die Anfälle im Laufe des Lebens sogar so stark zu, dass es überhaupt keine Erholungsphasen mehr gibt. Eine Entwicklung, die für die Betroffenen fatale Folgen hat, da sich die anhaltenden Schmerzen und Begleiterscheinungen auf sämtliche Lebensbereiche auswirken. Ab wann eine Migräne als chronisch eingestuft wird und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt, hat Diana für euch zusammengetragen.

Vom Spannungskopfschmerz zu Migräneanfällen

Wenn ich drüber nachdenke, habe ich eigentlich schon immer mit Kopfschmerzen zu tun gehabt. Bereits vor meiner ersten Migräne-Attacke, im Alter von 16 Jahren, bin ich zuhause regelmäßig an unsere Medikamenten-Schublade gegangen, um heimlich nach Aspirin, Paracetamol oder Ibuprofen zu suchen. Heimlich, weil meine Mutter zu den glücklichen Menschen gehört, die maximal ein- oder zweimal pro Jahr eine Schmerztablette nehmen – gegen Gliederschmerzen oder hohes Fieber. Grundlose Kopfschmerzen sind ihr fremd, weshalb ich damals das Gefühl hatte, dass mit mir etwas nicht stimmt. Forschende des Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden haben 2019 im Rahmen einer Studie bestätigt, dass ich mit diesen Gedanken nicht alleine war. Mehr als zwei Drittel der 2.706 befragten Kinder und Jugendlichen aus Deutschland gaben an, regelmäßig unter Kopfschmerzen zu leiden. In ärztlicher Behandlung befanden sich jedoch nur die wenigsten von ihnen, was einmal mehr auf den gesellschaftlichen Irrglauben hindeutet, dass es sich bei Kopfschmerzen eher um einen lästigen temporären Zustand als um eine „richtige“ Krankheit handelt. Dass eine rechtzeitige Diagnose die jungen Menschen vor einem folgenschweren Schmerzkreislauf bewahren könnte, der nicht selten zahlreiche Fehltage, schlechte Noten bis hin zu Depressionen zur Folge hat, bedenken weder die Betroffenen selbst noch ihre Eltern. So schlich auch ich mich regelmäßig nach der Schule an die besagte Schublade, um eine der erlösenden Tabletten aus dem Blister zu drücken und so zu tun, als sei alles in Ordnung. Doch zu den regelmäßigen Spannungskopfschmerzen gesellten sich schon bald auch vernichtende Migräneanfälle hinzu. Infolgedessen verschrieb mir mein Hausarzt zwar meine ersten Triptane, für die ich im Ernstfall auch sehr dankbar war, doch über die Akutmedikation hinaus passierte erst mal viele Jahre nichts. Je älter ich wurde, desto mehr Schmerztage kamen pro Monat zusammen, bis ich mir mit Anfang dreißig schließlich nicht mehr zu helfen musste und nach jedem Strohhalm griff.

Schon mit 16 bin ich zuhause regelmäßig an unsere Medikamenten-Schublade gegangen, um nach Aspirin, Paracetamol oder Ibuprofen zu suchen. Heimlich, weil ich glaubte, dass mit mir etwas nicht stimmt.

Spurensuche: Können Weisheitszähne Migräne auslösen?

Zunächst suchte ich mir eine neurologische Praxis, doch bis auf die Anpassung meiner Notfallmedikamente änderte sich erst mal nichts. Kurz darauf war es ausgerechnet mein Zahnarzt, der mir Hoffnung machte. Obwohl es lange Zeit geheißen hatte, dass mir schlichtweg die Veranlagungen für Weisheitszähne fehlen, machten sich nun genau diese bemerkbar. Das Problem war jedoch, dass in meinem kleinen Kiefer kein Platz für zusätzliche Zähne war. Das heißt, sie steckten irgendwo unter der Oberfläche fest und drückten auf die angrenzenden Backenzähne und Nerven. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Druck Kopfschmerzen auslöste, schien dementsprechend groß. Also überwand ich meine Angst und stimmte einer Entfernung der drei entdeckten Übeltäter in Vollnarkose zu. Ich erspare euch an dieser Stelle eine Ausführung der Komplikationen und wochenlangen Beschwerden im Anschluss an die Operation. Aber so viel sei verraten: Auf die Kopfschmerzen, die mich zu der Zeit an 18 bis 20 Tagen pro Monat plagten, hatte die Weisheitszahn-OP keinerlei Auswirkungen. Als nächstes versuchte meine Gynäkologin etwaige Hormonschwankungen mit der Anti-Baby-Pille einzufangen, was mir zwar eine ganze Reihe Nebenwirkungen, jedoch ebenfalls keine Besserung einbrachte. Es war frustrierend und die Auswirkungen der allgegenwärtigen Kopfschmerzen waren verheerend. Nach und nach zog ich mich immer mehr zurück, weil mich Verabredungen sehr anstrengten und mir Bewegung sowie laute Musik oft den Rest gaben. Auch beruflich viel es mir zunehmend schwerer, mich zu konzentrieren und Deadlines zu halten. Nach etwa einem Jahr erkannte ich mein Leben nicht mehr wieder und es machte sich eine ungute Stimmung in meinem Alltag breit, die ich rückblickend als depressive Phase bezeichnen würde. Gegen die ständigen Schmerzen konnten die üblichen Medikamente kaum noch etwas ausrichten. Ich war vollkommen hoffnungslos. So kam es, dass ich eines Tages weinend bei meiner Neurologin saß und mit ihr die Kopfschmerztagebücher der vergangenen Monate durchging.

Junge Frau mit Kopfschmerzen sitzt im Bett. Thema chronische Migräne

Medikamentöse Prophylaxe – Von Betablockern bis Antidepressiva

Was sofort auffiel, war mein Medikamentenübergebrauch. An die »10:20-Regel« hielt ich mich aufgrund der immer häufiger auftretenden Schmerzen nämlich schon lange nicht mehr. In der Migräne- und Kopfschmerztherapie gilt: Akutmedikamente, wie Schmerztabletten und Triptane, dürfen an maximal zehn Tagen pro Monat verwendet werden – an den übrigen 20 Tagen sollten Betroffene von einer Einnahme absehen. Denn bei einem zu häufigem Gebrauch erzielen die Medikamente den gegenteiligen Effekt und die Kopfschmerzen nehmen sogar zu. Ein Blick in meine Tagebücher verriet, dass ich an 12 bis 15 Tagen zu Tabletten griff – genauer gesagt, zu Paracetamol, Ibuprofen oder Triptanen. „Das sieht nicht gut aus“, sagte meine Neurologin. „Es zeichnet sich ab, dass ihre Migräne chronisch wird, dagegen müssen wir dringend etwas tun.“ Einerseits war ich erleichtert, weil ich mich ernstgenommen fühlte. Andererseits machten ihre Worte mir Angst. Chronisch – das klang nach lebenslangen Schmerzen, denen ich hilflos ausgeliefert war. Laut der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft gilt eine Migräne als chronisch, wenn sie über einen Zeitraum von drei Monaten an mindestens 15 Tagen pro Monat auftritt. Genau das war bei mir der Fall. Um die Häufigkeit und Intensität meiner Attacken zu reduzieren, legte mir die Neurologin eine medikamentöse Prophylaxe ans Herz. Sprich, die dauerhafte Einnahme von Medikamenten, die sich Studien zufolge positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken können. Am nächsten Tag begann ich mit der Einnahme von Betablockern. Zunächst änderte sich nichts, doch im dritten Monat begann ich, Hoffnung zu schöpfen. Die Pausen zwischen den Migräneattacken wurden länger und die Schmerzintensität nahm vorübergehend ab. Doch die Freude war bloß von kurzer Dauer. Nach einem halben Jahr war alles wieder wie vorher. Bloß mit dem Unterschied, dass ich ständig müde war. In Absprache mit meiner Ärztin setze ich das Medikament schließlich ab. Ich war enttäuscht. Hinzu kam, dass die Alternativen – ein Antidepressivum und ein Antiepileptikum – mir Angst machten.

Als meine Migräne chronisch wurde, entschied ich mich für eine medikamentöse Prophylaxe. In den ersten Wochen litt ich unter Schwindel, Kopfschmerzen und Albträumen – tagsüber schlief ich im Sitzen ein.

Nicht aufgeben: Was tun, wenn nichts hilft?

Ich entschied mich für das Medikament Amitriptylin, ein Antidepressivum mit „schmerzdistanzierender Eigenschaft“. Wie bei den Betablockern, musste ich die Dosierung in den ersten Wochen langsam erhöhen. Was dann passierte, war die Hölle. Ich litt unter Schwindel, Dauerkopfschmerzen, Albträumen und war so unfassbar müde, dass ich tagsüber im Sitzen einschlief. Kurz: Ich war ein Wrack. Nach einer Woche rief ich meine Neurologin an, weil ich die Nebenwirkungen nicht mehr aushielt. „Halten Sie durch“, riet sie mir. „Diese Phase dauert in der Regel zwei Wochen an, aber auf lange Sicht kann es sich auszahlen.“ Zwei Wochen, das hieß, dass ich gerade mal die Hälfte geschafft hatte. Doch mit diesem konkreten Ziel vor Augen blieb ich dran. Nachts wachte ich schweißgebadet auf, weil ich im Traum um mein Leben kämpfte. Beim Treppensteigen musste ich mich am Geländer festhalten, um bei der nächsten Schwindelattacke nicht hinunterzufallen und die anhaltenden Kopfschmerzen waren mit keinem Akutmedikament mehr in den Griff zu kriegen. Tagelang lag ich im Bett und weinte. Und dann – an Tag 13 – hörte der Spuk plötzlich auf. Ich hatte es geschafft und die Prophezeiung der Ärztin schien sich zu bewahrheiten. Monat für Monat notierte ich daraufhin weniger Schmerztage und wenn ich Migräne bekam, hielten die Anfälle nicht mehr so lange an. Doch da war noch etwas anderes, was mit meinem Körper passierte. Ich wurde zunehmend unkonzentrierter und die Müdigkeit nistete sich in meinem Alltag ein. Abends schlief ich bereits um 20 Uhr vor dem Fernseher ein. Morgens brauchte ich mindestens sechs Wecker, bis ich es schaffte, gegen die zufallenden Augen anzukämpfen und aufzustehen. Und da war noch etwas: Ich nahm zu. „Was soll’s?“, sagte ich mir immer wieder. „Das ist der Preis dafür, dass du weniger Schmerzen hast!“ Aber dabei blieb es nicht. Nach etwa neun Monaten ließ die Wirkung merklich nach, weshalb wir die Dosis noch einmal erhöhten. Doch während die Besserung nur von kurzer Dauer war, nahmen die Nebenwirkungen deutlich zu. Nach einem Jahr setzte ich das Medikament schleichend und endgültig ab. Elf Kilo habe ich in dem Jahr der Einnahme zugenommen. Und auch darüber hinaus bin ich vorerst bedient. Welche Prophylaxe ich als nächstes ausprobiere? Ihr werdet es als erste erfahren.

P.S.: Dass ich persönlich keine guten Erfahrungen mit Betablockern und Amitriptilyn als Migräne-Prophylaxe gemacht habe, heißt nicht, dass es bei dir genauso laufen muss. Jeder Körper und jede Migräne ist anders und vielen Menschen kann so durchaus geholfen werden. Doch ob man zu Glücklichen zählt, bei denen der Plan (ohne Nebenwirkungen) aufgeht und die Migräne um rund 50 Prozent reduziert werden kann, muss leider jede*r für sich selbst herausfinden.

Quellen

Diana Ringelsiep

Journalistin, Autorin und Migräne-Patientin

Kolumne: #mittwochsistmigräne

Ich lebe seit über 20 Jahren mit Migräne und habe es mir zur Aufgabe gemacht hat, über die neurologische Erkrankung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Auf dass Betroffene sich weniger einsam und Angehörige weniger hilflos fühlen.

  • Jahrgang 1985
  • Kulturjournalistin, M. A. (2012)
  • Wohnhaft in Essen

www.diana-ringelsiep.de