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Junge Frau schaut in Gedanken versunken in die Gegend. Thema: Migräne Junge Frau schaut in Gedanken versunken in die Gegend. Thema: Migräne

Folge 22 – Migräne in Zeiten der Krisen

Resilienz und Erholungsphasen

Wir leben in turbulenten Zeiten. Während pünktlich zur kalten Jahreszeit mal wieder Corona und die Grippe die Runde machen, dreht sich in den Nachrichten alles um nervenaufreibende Wahlen, Kriege und Umweltkatastrophen. All das geht nicht spurlos an uns vorbei, sondern führt zu einer unterbewussten Anspannung, die sich nur schwer ausblenden lässt. Die Folge: Wir sind dauerhaft gestresst, was nicht nur auf die Stimmung schlagen, sondern auch Migräne auslösen kann. Umso wichtiger ist es, sich im Alltag kleine Erholungsinseln zu schaffen und das Weltgeschehen hin und wieder auszusperren. Warum Ablenkung nicht mit Gewissensbissen verbunden sein sollte und wie sie gelingen kann, hat Diana für uns zusammengefasst.

News als Migränetrigger

Im vergangenen Frühling habe ich nach drei Jahren Arbeit ein großes Projekt zum Abschluss gebracht. Um genau zu sein, eine vierteilige Dokumentation, bei der ich Regie geführt habe. Am Tag vor der Premiere konnte ich selbst kaum glauben, dass es Die vergangenen Jahre sind nicht einfach gewesen. Erst hat die Pandemie die Welt aus den Angeln gehoben, dann kamen Kriegsmeldungen aus nah und fern dazu und zwischendurch haben uns erschreckende Bilder von Überschwemmungen, Waldbränden und Jahrhundertstürmen den Rest gegeben. Gepaart mit dem Druck, trotz all dem funktionieren zu müssen, hat die damit einhergehende Unsicherheit bei vielen von uns Spuren hinterlassen. Ich selbst habe mir lange Zeit eingeredet, mich von der allgemeinen Krisenstimmung nicht unterkriegen zu lassen. Ganz nach dem Motto: Das wird schon wieder! Und für eine Weile hat das auch funktioniert. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen in meinem Umfeld habe ich glücklicherweise keinen Hang zu Depressionen und auch sonst scheine ich ziemlich resilient zu sein. Ich ließ mich daher vorerst nicht beirren und machte einfach weiter, immer bedacht darauf, die Schreckensmeldungen nicht zu nah an mich heranzulassen. In der Psychologie ist diese psychische Widerstandskraft, mit deren Hilfe Belastungen abgefedert werden können, unter anderem auf die individuellen Lebensumstände zurückzuführen. Ein funktionierendes soziales Netzwerk, nahestehende Personen, ein schönes Zuhause, Hobbies und eine zuversichtliche Lebenseinstellung können unsere Resilienz erhöhen. Privilegien, die leider nicht allen Menschen im selben Maße vergönnt sind. Jedoch kann das Stresslevel auch trotz der besten Voraussetzungen ab einem gewissen Punkt kippen. Zum Beispiel, wenn verschiedene Sorgen zusammenkommen und die Zuversicht mit der Zeit kleiner wird. Genau das ist bei mir passiert. Um genau zu sein, war es die US-Wahl, die das Fass in meinem Fall zum Überlaufen brachte. Seither fühle ich mich ohnmächtig und plötzlich lösen die banalsten Dinge Stress in mir aus. Aber was genau ist Stress eigentlich? Und warum zählt er zu den verlässlichsten Migräne-Triggern überhaupt?

Beim Lesen der Nachrichten fühle ich mich oft ohnmächtig, was immer wieder zu stressbedingter Migräne führt.

Verschiedene Arten von Stress

Letztendlich ist Stress nichts anderes als eine körperliche Reaktion auf innere und äußere Reize. Womit wir auch direkt beim Knackpunkt wären, denn bei Migräne handelt es sich ja bekanntlich um eine Reizverarbeitungsstörung im Gehirn. Dabei wird zwischen Disstress und Eustress unterschieden – negativem und dem positivem Stress. Ersterer entsteht immer dann, wenn wir beispielsweise spät dran sind, unter Prüfungsangst leiden oder Konflikte mit anderen Personen austragen müssen. Letzterer wird hingegen eher als motivierende Herausforderung empfunden und treibt uns dazu an, zuvor gesetzte Ziele zu erreichen und über uns hinauszuwachsen. Das eben beschriebene Ohnmachtsgefühl, das mich seit einigen Tagen begleitet, ist das Gegenteil von positivem Stress. Erstmals seit Pandemiebeginn fühle ich mich hilflos und handlungsunfähig. Laut der biologischen Stressforschung befinde ich mich damit in der dritten Phase eines stereotyp ablaufenden Reaktionsmusters – dem Erschöpfungsstadium. Während es in der ersten Phase zu einer schnellen Bereitstellung von Energiereserven kommt und die Leistungsbereitschaft für den bevorstehenden „Kampf“ erhöht wird, versucht der Körper in der darauffolgenden Widerstandsphase, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Gelingt das auf Dauer nicht, weil beispielsweise neue Stressoren hinzukommen, leidet die Resilienz und die Erschöpfung gewinnt die Oberhand. Ich kann natürlich nur für die vergangene Woche sprechen, aber ich fühle mich ausgebrannt. Dass ich seitdem gleich zweimal von einer erbarmungslosen Migräne heimgesucht wurde, spricht für sich. Und obwohl diese körperliche Reaktion auf den ersten Blick logisch erscheint, ist sie dennoch neu für mich. In der Regel setzen die Kopfschmerzen bei mir nämlich erst in der Entspannungsphase nach dem Stress ein – und nicht infolge von Resignation. Die Erklärung für dieses Phänomen lautet: Nicht die Stressintensität entscheidet über die Attacke, sondern Veränderungen des Stressniveaus.

Doomscrolling: Der zwanghafte Nachrichtenkonsum

Junge Frau lehnt sich ans Auto und schaut auf ihr Handy. Thema: Migräne

Wenn ich auf die letzten Jahre zurückblicke, fällt mir auf, dass ich mich bei dem Versuch, das Weltgeschehen vorübergehend auszublenden, oft schlecht gefühlt habe. Auch an den Tagen nach der US-Wahl habe ich mir jegliche Ablenkung verboten und stattdessen stundenlang Nachrichten konsumiert, als könnten die Auswertungen der Statistiken und die Expert*innen-Interviews etwas an dem Ergebnis ändern. In Momenten schlechter Nachrichten fühlt es sich oft falsch an, wegzuschauen und sich mit unwichtigen Dingen zu befassen. Immer wieder erwische ich mich bei Gedanken wie „Ich kann doch nicht Gilmore Girls schauen, während in der Ukraine Bomben fallen oder die Menschen in Rheinland-Pfalz gegen das Hochwasser kämpfen.“ Mir ist natürlich klar, dass niemandem damit geholfen ist, wenn ich an solchen Tagen rund um die Uhr am Handy hänge und mir eine Horrormeldung nach der anderen reinziehe. Aber es fühlt sich solidarischer an, hinzuschauen und sich mit den jeweiligen Problemen zu befassen, anstatt sich in eine vermeintlich heile Welt zurückzuziehen. Dieses Verhalten, das ich inzwischen auch bei anderen Menschen beobachte, ist nichts weiter als das Resultat quälender Hilflosigkeit. Was ich dabei jedoch gerne außer Acht lasse, sind die körperlichen Folgen der Nachrichtenflut. Die ständige Konfrontation mit Krisensituationen führt nämlich unter anderem dazu, dass unser Puls und unser Blutdruck steigen. Adrenalin wird ausgeschüttet und der Körper wird aktiv in Alarmbereitschaft versetzt, als würde uns der Kampf mit einem Säbelzahntiger bevorstehen. Ein Zustand, der uns in realen Gefahrensituationen das Leben retten kann, weil wir schneller reagieren und die Flucht ergreifen können. Jedoch stellen eine ferne Naturkatastrophe oder die Lage in Afghanistan keine reale Gefahr für uns zuhause dar. Auf Dauer kann das sogenannte Doomscrolling daher nicht nur einen negativen Einfluss auf unsere psychische Gesundheit nehmen, sondern infolge des dadurch bedingten Stresses auch Migräne auslösen. Denn anstatt die unkontrollierbare Situation durch den exzessiven Nachrichtenkonsum in den Griff zu kriegen, werden unsere Ängste und die damit einhergehende Hilflosigkeit bloß verstärkt.

Die ständige Konfrontation mit Krisen im Newsfeed versetzt uns in eine dauerhafte Alarmbereitschaft, die Migräne triggern kann.

Coping Strategien zur Stressbewältigung

Dass das Smartphone samt Newsfeed des Grauens nur noch einen Griff in die Hosentasche entfernt ist und viele von uns sich selbst im Bett nicht davon losreißen können, wird zunehmend zu einem Problem. Die dauerhafte Anspannung erhöht nämlich weder unsere Empathie gegenüber der Betroffen vor Ort, noch die eigene Handlungsfähigkeit. Oftmals ist sogar das Gegenteil der Fall: Wir fühlen uns erschlagen und gelähmt, weil wir unseren Selbstschutz vernachlässigen. Die stressbedingte Migräne, die diese dauerhafte Alarmbereitschaft oft mit sich bringt, verstärkt das Ohnmachtsgefühl bloß noch mehr. Umso wichtiger ist es, Coping-Strategien zu entwickeln, um die Zukunftssorgen im Zaum zu halten und den drohenden Worry-Burnout samt Dauermigräne zu vermeiden. Folgende Punkte können helfen, die Nachrichtensucht zu durchbrechen und bewusste Pausen einzulegen:

  • Verbanne dein Smartphone aus dem Schlafzimmer und führe zuhause handyfreie Zonen ein – zum Beispiel am Esstisch oder auf der Couch.
  • Lege einen festen Slot am Tag für deinen Nachrichtenkonsum fest und versuche, es dabei zu belassen.
  • Du hast eine Lieblingsserie, die dir ein gutes Gefühl gibt und bei der keine bösen Überraschungen zu befürchten sind, weil du sie bereits auswendig kennst? Dann nutze sie als Zufluchtsort.
  • Einsamkeit und Isolation machen uns empfänglicher für Ängste, deshalb umgib dich mit Menschen, die du magst und rede mit ihnen über deine Sorgen.
  • Bleib aktiv und handlungsfähig: Geh zum Sport, triff dich mit Freund*innen und besuche Konzerte, um auf andere Gedanken zu kommen.
  • Führe dir immer wieder vor Augen, dass es deine Empathie gegenüber denjenigen, die von den Katastrophen betroffen sind, nicht schmälert, wenn du dir zwischendurch eine Pause gönnst.
  • Du zelebrierst gern die Weihnachtszeit oder liebst es, deinen Geburtstag zu feiern? Dann dekoriere dein Zuhause, schlendere über den Weihnachtsmarkt oder plane eine Party, um deinen Alltagssorgen etwas Schönes entgegenzusetzen.
  • Geh raus in die Natur, mach einen Ausflug zum See oder plane den nächsten Urlaub, um dem Hamsterrad zu entkommen.
  • Lass die Trauer und Überforderung zu – und dann entscheide dich bewusst dazu, die Opferrolle auch wieder zu verlassen und dich nicht unterkriegen zu lassen.

Quellen

Diana Ringelsiep

Journalistin, Autorin und Migräne-Patientin

Kolumne: #mittwochsistmigräne

Ich lebe seit über 20 Jahren mit Migräne und habe es mir zur Aufgabe gemacht hat, über die neurologische Erkrankung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Auf dass Betroffene sich weniger einsam und Angehörige weniger hilflos fühlen.

  • Jahrgang 1985
  • Kulturjournalistin, M. A. (2012)
  • Wohnhaft in Essen

www.diana-ringelsiep.de