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Folge 1 – Böses Erwachen

"Das erste Mal vergisst man nie " - In ihrer Kolumne nimmt Diana euch mit in ihre Welt

Wie die meisten Menschen, kann ich mich nicht daran erinnern, wann ich das erste Mal Kopfschmerzen hatte. Wahrscheinlich war ich noch ein Kind und der Druck hinter der Stirn war die Begleiterscheinung einer Erkältung. Den Morgen meiner ersten Migräne werde ich hingegen niemals vergessen.

Wie alles begann

Wie die meisten Menschen, kann ich mich nicht daran erinnern, wann ich das erste Mal Kopfschmerzen hatte. Wahrscheinlich war ich noch ein Kind und der Druck hinter der Stirn war die Begleiterscheinung einer Erkältung. Den Morgen meiner ersten Migräne werde ich hingegen niemals vergessen. Ich war 16 Jahre alt und hatte mit meiner besten Freundin am Abend zuvor eine Disco besucht – die einzige, die es in unserer Kleinstadt gab. Eine Bekannte hatte uns zuvor eingeladen, bei ihr zu übernachten, da ihre Eltern verreist waren. Sie wohnte fußläufig von dem besagte Club entfernt und wir freuten uns, unter diesen Umständen ausnahmsweise mal etwas länger bleiben zu können, da uns niemand abholen musste. Ansonsten war an jenem Abend alles wie immer. Wir tranken ein paar Bier mit Limo und tanzten zu den Hits der frühen Nullerjahre. Britney Spears, Limp Bizkit, Eiffel 65 – I’m blue dabedee dabedei! Als wir schließlich die Wohnung unserer Bekannten erreichten, zeigte sie uns unsere Schlafplätze und wir legten uns direkt hin. Am nächsten Morgen wurde ich um 6:30 Uhr von einem nie dagewesenen Schmerz geweckt, der hinter meinem linken Auge pulsierte. Ich brauchte einen Moment, um mich in dem fremden Kinderzimmer zu orientieren, das offenbar dem kleinen Bruder der Gastgeberin gehörte. Die Morgensonne, die durch das Fenster hereinfiel, war unerträglich, denn aus irgendeinem Grund schien sich das grelle Licht direkt auf das Pochen in meinem Kopf auszuwirken.

Mit geschlossenen Augen versuchte ich mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Doch mit jedem Einatmen schwoll die Übelkeit an, die mit den hämmernden Kopfschmerzen einherging. Ich verstand das alles nicht, was war bloß los mit mir?

Stechende Kopfschmerzen und Übelkeit

Plötzlich wurde ich von einer Hitzewelle erfasst und in meinem Mund lief ein Schwall Speichel zusammen. Ich bekam Panik. Wo war noch mal die Toilette? Allein die Vorstellung, aufstehen zu müssen, ließ mich verzweifeln. Aber es half alles nichts. Sofern ich mich nicht in die Fußball-Bettwäsche des unbekannten Bruders übergeben wollte, musste ich handeln – und zwar schnell! Vorsichtig richtete ich mich auf und stellte meine Füße auf den bunten Straßenteppich. Augenblicklich explodierte der Schmerz in meinem Kopf, sodass ich beide Hände fest gegen meine Schläfe presste und in der Bewegung verharrte. Tränen tropften auf mein T-Shirt. Gleichzeitig brach die nächste Übelkeitswelle über mich herein, die mir keine Wahl mehr ließ. Mit einer Hand vor dem Mund sprang ich auf, öffnete die Tür zum Flur und schaffte es gerade noch rechtzeitig ins gegenüberliegende Bad, um mich bei offener Tür in die Toilette zu übergeben.

Der pulsierende Schmerz, der inzwischen die gesamte linke Seite meines Kopfes einnahm, wurde mit jedem Würgen stärker und hallte wie ein Echo in meinem Schädel nach. Stechend und unkontrollierbar.

Ich kann nicht mehr sagen, wie lange ich dort zitternd auf den Fliesen kniete und das Klo umarmte, doch irgendwann muss die Übelkeit etwas nachgelassen haben. Mir war intuitiv klar, dass ich das (wahrscheinlich kurze) Zeitfenster nutzen musste, um nach Hause zu kommen – in meine eigenen vier Wände, wo ich mit niemandem reden und mich nicht länger zusammenreißen musste. Aber da musste ich erst mal hinkommen. Flach atmend und mit möglichst gleitenden Bewegungen machte mich auf die Suche nach einem Festnetz-Telefon. Die anderen schliefen noch, doch in der Küche fand ich schließlich, wonach ich suchte. Zwanzig Minuten später wurde ich von meiner Mutter mit dem Auto abgeholt. Ich machte mich auf eine Standpauke gefasst, weil ich offenkundig verkatert war, doch ein Blick in mein graues Gesicht genügte und sie wusste Bescheid: „Oh nein, sieht so aus, als hättest du Papas Migräne geerbt.“ Ich fühlte mich trotzdem schlecht, als hätte ich etwas falsch gemacht. Zuhause angekommen, nahm ich sofort eine Kopfschmerztablette, zog die Vorhänge in meinem Zimmer zu und legte mich hin. Doch ich sollte mich noch weitere vier Stunden vor Schmerzen übergeben, bis ich den ersten Schluck Tee bei mir behielt.

Diagnose: unheilbar

Inzwischen bin ich Ende 30 und ich kriege nicht mehr zusammen, wie viele dieser Attacken ich bereits hinter mir habe. Es müssen Hunderte gewesen sein. Rückblickend hatte ich zwar Glück, dass sowohl meine Mutter als auch mein Hausarzt sofort die richtige Diagnose gestellt haben, denn laut der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) werden rund 40 Prozent aller Migränefälle nicht richtig diagnostiziert und infolgedessen falsch behandelt. Jedoch ahnte ich damals noch nicht, welches Ausmaß die Erkrankung im Laufe der Jahre erreichen würde. Ich machte mir noch kein Bild davon, was es bedeutet, mit Migräne zu leben. Wie auch? So musste ich auf die harte Tour lernen, dass es nicht nur die Attacken selbst sind, die Betroffenen das Leben schwer machen. Sondern auch die damit verbundenen Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche. Es ist eine Bürde, andere ständig enttäuschen zu müssen, weil die Kopfschmerzen mal wieder alle Pläne durchkreuzen. Ich habe längst aufgehört zu zählen, wie viele Ausflüge, Geburtstagspartys, Familienfeiern und Verabredungen ich kurzfristig absagen musste, weil mein Kopf mir von jetzt auf gleich einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Ich kenne den skeptischen Blick von Arbeitskolleg*innen und Vorgesetzten, die sich nicht vorstellen können, dass bei einem Anfall wirklich gar nichts mehr geht. Und mir sind auch die vermeintlich guten Ratschläge von Menschen bekannt, die glauben, dass Yoga oder frische Luft meine neurologische Erkrankung heilen könnten. Die schlechte Nachricht vorweg: Migräne ist nicht heilbar. Damit habe ich mich inzwischen arrangiert.

"Wenn mir eine Sache in den vergangenen Jahren geholfen hat, dann ist das der Austausch mit anderen Betroffenen gewesen."

Gemeinsam sind wir weniger allein

Aber was tun, wenn man den Kopf trotz Schmerzen nicht in den Sand stecken will? Wenn mir eine Sache in den vergangenen Jahren geholfen hat, dann ist das der Austausch mit anderen Betroffenen gewesen. Wobei „Austausch“ sogar etwas übertrieben ist, denn eigentlich reichte mir schon das Wissen um die Existenz meiner Leidensgenoss*innen. Die Erkenntnis, mit all dem nicht allein zu sein, hat eine große Last von mir genommen – und das möchte ich im Rahmen dieser Rubrik gerne weitergeben. Als Betroffene weiß ich, wie groß der Druck sein kann, funktionieren zu müssen, obwohl sich bereits die nächste Attacke ankündigt. Ich weiß, wie es sich anfühlt, mal wieder die Spielverderberin zu sein, die den halben Urlaub im dunklen Hotelzimmer verbringt, während der Partner alleine losziehen muss. Ich weiß, wie groß die Sorge sein kann, unzuverlässig zu wirken, weil man eine Deadline nicht halten oder einen Termin nicht wahrnehmen kann. Und ich weiß auch, wie schwer das Leben mit Migräne für Angehörige ist, da sie ständig Rücksicht nehmen und Verständnis aufbringen müssen, wenn die paralysierenden Kopfschmerzen mal wieder im ungünstigsten Moment zuschlagen. Ich hoffe, dass ich mit dieser Kolumne ein Stück zur Sichtbarkeit dieser oft verkannten Erkrankung beitragen kann. Und ich hoffe, dass ihr mich auf diesem Weg begleitet.

Diana Ringelsiep

Journalistin, Autorin und Migräne-Patientin

Kolumne: #mittwochsistmigräne

Ich lebe seit über 20 Jahren mit Migräne und habe es mir zur Aufgabe gemacht hat, über die neurologische Erkrankung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Auf dass Betroffene sich weniger einsam und Angehörige weniger hilflos fühlen.

  • Jahrgang 1985
  • Kulturjournalistin, M. A. (2012)
  • Wohnhaft in Essen

www.diana-ringelsiep.de