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Folge 4 – Das Knirschen im Kopf

Bruxismus und Migräne

Eine häufige Ursache für chronische Migräne ist die unbewusste Aktivität der Kiefermuskulatur. Statistisch gesehen knirscht etwa ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland mit den Zähnen. Zumindest phasenweise. Betroffene klagen häufig über Stress, Ängste und Überanstrengung. Die Folge: Sie pressen ihre Zähne – meist nachts – mit enormer Kraft aufeinander, um emotionalen Druck abzubauen. Auch unsere Kolumnistin knirscht seit 20 Jahren. Fatal, da der sogenannte Bruxismus das Risiko für chronische Migräne um das 3,8-fache erhöhen kann. Aber was tun, wenn sich die Kiefermuskulatur im Schlaf verselbstständigt und inwiefern kann eine Knirschschiene helfen? Diana hat die Doppelbelastung für uns beleuchtet.

Nachts, wenn die Kiefergelenke arbeiten

Morgen ist es mal wieder soweit: Ich bekomme eine neue Knirschschiene, weil ich meine alte neulich Nacht durchgebissen habe. Ja, das meine ich wörtlich. Ich habe sie abends in einem Stück eingesetzt und am nächsten Morgen in zwei Teilen wieder herausgeholt. Ist nicht das erste Mal gewesen, dass mir das passiert. Aus irgendeinem Grund feiern meine Kiefergelenke nachts gerne eine Party ohne mich. Blöd nur, dass ich den Kater am nächsten Tag alleine durchstehen muss. Oft werde ich dann bereits mit Kopfschmerzen wach und in meinen Ohren knackt es. Meine Muskulatur ist hart wie Stein – vom Kiefer bis zum Nacken. Und meine Zähne tun so weh, dass es mir das Frühstück vermiest. Und das, obwohl ich seit vielen Jahren maßangefertigte Schienen trage. Doch die schützen eben nur den Zahnschmelz. Gegen die nächtlichen Kiefermuskel-Kontraktionen kann das Stück Kunststoff leider nichts ausrichten.

Dentaler Leistungsdruck

Ich muss ungefähr 18 gewesen sein, als mein Zahnarzt mich erstmals fragte, ob ich nachts mit den Zähnen knirschen würde. Woher sollte ich das wissen? Ich konnte schließlich schlecht darauf achten, während ich schlief. Er empfahl mir, das Ganze im Auge zu behalten und für mich war die Sache damit erledigt. Denn ich stellte es mir ziemlich unsexy vor, mich abends mit einer zusätzlichen Kauleiste im Mund zu meinem Freund ins Bett zu legen. Rückblickend ist es kein Zufall, dass meine Knirsch-Odyssee ausgerechnet zu dem Zeitpunkt begann, als ich mich in der Abschlussklasse befand. Ich war zwar gut in der Schule, doch wie die meisten meines Jahrgangs, spürte auch ich den steigenden Leistungsdruck. Ständig wurden wir von Eltern und Lehrkräften darauf hingewiesen, dass das letzte Zeugnis entscheidend für unseren weiteren Lebensweg sei. Also legte ich mich ins Zeug und begann über meine Zukunft zu grübeln. Meine Kiefer begannen, den Stress auf ihre Art abzubauen und nahmen die Sache mit dem „Druckausgleich“ dabei anscheinend etwas zu wörtlich. Etwa ein Jahr später fand ich mich in Berlin wieder, wo ich mich für einen Studiengang eingeschrieben hatte. Doch trotz aller Freiheiten und Vorzüge des Studierendenalltags, wurde mir bald klar, dass ich den Stress nicht hinter mir gelassen hatte. Im Gegenteil: Plötzlich musste ich mich zweimal pro Jahr mehrwöchigen Prüfungsphasen stellen, deren Ergebnisse weitreichende Folgen für meinen weiteren Studienverlauf haben konnten. Als ich das nächste Mal meine Familie besuchte, schlug mein Zahnarzt die Hände über dem Kopf zusammen. Offenbar hatte der Prüfungsstress deutliche Spuren auf meinem Zahnschmelz hinterlassen. An einer Schiene führe nun kein Weg mehr vorbei, entschied er. Dass ich damals auch vermehrt von Migräneattacken und tagelangen Dauerkopfschmerzen heimgesucht wurde, ergibt in der Retrospektive durchaus Sinn. Mein neuer Schlaf-Wach-Rhythmus war alles andere als regelmäßig. Während ich zu Schulzeiten morgens immer zur selben Zeit aufgestanden war, sah an der Uni jeder Tag anders aus: Ausschlafen am Montag, früh raus am Dienstag, Seminar-Marathon am Mittwoch, donnerstags frei, Endspurt am Freitag, Tanzen bis zum Morgengrauen am Wochenende. So abwechslungsreich mein neuer Alltag aussah, so unstrukturiert war wer auch. Von all dem Lernstress und den wilden WG-Partys jener Zeit ganz zu schweigen.

» Während das Knirschen bei Kindern die Positionierung der Milchzähne unterstützt, dient es bei Erwachsenen hauptsächlich der Stressbewältigung. Die Gründe dafür sind so vielfältig wie die Menschen selbst: Finanzielle Sorgen, Ärger am Arbeitsplatz, Prüfungsstress und Beziehungsprobleme zählen zu den häufigsten Ursachen.«

Verbreitung, Ursachen und Folgen

Rund ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland leidet unter Bruxismus, wobei Frauen deutlich häufiger betroffen sind als Männer. Während das Knirschen bei Kindern die Positionierung der Milchzähne unterstützt, dient es bei Erwachsenen hauptsächlich der Stressbewältigung. Die Gründe dafür sind so vielfältig wie die Menschen selbst: Finanzielle Sorgen, Ärger am Arbeitsplatz, Prüfungsstress und Beziehungsprobleme zählen zu den häufigsten Ursachen. Redewendungen wie „Ich habe mich an dem Problem festgebissen“ oder „Ich muss einfach noch eine Weile die Zähne zusammenbeißen“ kommen schließen nicht von irgendwoher. Auch der Dauereinsatz von Smartphones und das ständige Scrollen in den Sozialen Medien soll laut einer Studie der Universität Tel Aviv zufolge das Zähneknirschen verstärken. Die menschliche Psyche und die Gesundheit der Zähne stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Nicht umsonst greifen in angespannten Situationen viele Menschen zum Kaugummi. Die Molekular- und Evolutionsbiologin Dr. Sabine Paul schreibt dem Kauen auf ihrer Website sogar eine stressmildernde Wirkung zu, da es Stresshormone wie Cortisol, Noradrenalin und Adrenalin reduziere und so zur Entspannung und einer besseren Gehirnleistung beitrage. Leider trifft das nicht auf Bruxismus zu. Die Reibungen beim Knirschen können massive Schäden an Zahnschmelz und Kiefergelenken verursachen. Kaum vorstellbar, doch laut der Gesellschaft für Zahngesundheit, Funktion und Ästhetik kann dabei ein Druck von fast 500 Kilogramm pro Quadratzentimeter Zahnoberfläche entstehen. Kein Wunder, dass bei Betroffenen häufig Schlafstörungen, Gesichts- und Kopfschmerzen sowie starke Verspannungen hinzukommen. Insbesondere bei vorbelasteten Personen können auch Tinnitus und Migräneattacken zu den Folgen zählen.

Beim Knirschen kann ein Druck von fast 500 Kilogramm pro Quadratzentimeter Zahnoberfläche entstehen. Kein Wunder, dass bei Betroffenen häufig Schlafstörungen, Gesichts- und Kopfschmerzen sowie starke Verspannungen der Nacken-, Schulter und Rückenmuskulatur hinzukommen. Insbesondere bei vorbelasteten Personen können auch Tinnitus und Migräneattacken zu den Folgen zählen.

Behandlungsmöglichkeiten

Inzwischen knirsche ich seit rund zwei Jahrzehnten und ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass es sich dabei bloß um eine Phase handeln könnte. Selbst die anfangs gefürchtete Aufbissschiene habe ich inzwischen richtig liebgewonnen. Während sie mich zu Beginn noch jede Nacht träumen ließ, dass ich mit der Zunge einen immer größer werdenden Kaugummi aus meinem Mund herauspressen muss (was ich teilweise geschafft habe), gehört sie inzwischen einfach zu mir. Doch wie bereits gesagt, mehr als meinen Zahnschmelz schützt sie leider nicht, weshalb ich bereits zahlreiche andere Behandlungen über mich ergehen lassen musste. So vermutete ein Zahnarzt vor acht Jahren beispielsweise, dass meine Weisheitszähne schuld an dem Dilemma seien. Meine Recherche bestätigte seine Theorie, da die verspäteten Backenzähne zu Fehlstellungen der Kiefergelenke und somit zu Verspannungen und Kopfschmerzen führen können. Ich ließ mir also, trotz panischer Angst vor der OP, unter Vollnarkose meine Weisheitszähne entfernen. Die Hoffnung, so den Knirsch-Migräne-Kreislauf durchbrechen zu können, war eben groß. Doch abgesehen von einer rekordverdächtigen Gesichtsschwellung, dank der ich eine Woche lang mein rechtes Auge nicht öffnen konnte, brachte mir die Aktion nichts als zusätzliche Schmerzen ein.

Eine Knirschschiene kann Linderung bringen. Einen Versuch ist es wert.

Warten auf das "Happy End"

Als die Mischung aus Nacken-, Kiefer- und Kopfschmerzen mal wieder nicht auszuhalten war, stellte ich mich einem weiteren hochmotivierten Zahnarzt vor. „Bitte einmal anspannen“, sagte er und tastete dabei meine Kiefermuskulatur ab. „Uiuiui, Sie trainieren offenbar schon länger!“ Um mir etwas Linderung zu verschaffen, verschrieb er mir Schmerzmittel und eine Physiotherapie, wo sich das „Bitte anspannen!“-Schauspiel schließlich noch mal wiederholen sollte. Auch die Physiotherapeutin zeigte sich schockiert. Fortan knetete sie in regelmäßigen Abständen mein Gesicht inklusive Trigeminusnerv und Schläfen durch. Außerdem zeigte sie mir eine Reihe von Übungen, die ich seither versuche, in meinen Alltag einzubauen. Doch obwohl die Therapie sogar noch zweimal verlängert wurde, waren ihre Abschiedsworte ernüchternd: „Ganz ehrlich, nach über zwei Jahrzehnten Leistungsknirschen werden Sie es nicht mehr verlernen. Trotzdem alles Gute für Sie.“ Und da stehe ich nun – weitere drei Jahre später – mit starken Verspannungen im Gesichts-, Kiefer- und Nackenbereich, die regelmäßig zu Dauerkopfschmerzen und Migräneanfällen führen. Aktuell liebäugle ich mit der wohl effektivsten, aber auch teuersten Behandlungsmethode: Botox! Denn das Nervengift Botulinumtoxin kann Studien zufolge weit mehr als Falten glätten. Wird es im Bereich der Kiefer- und Kaumuskeln injiziert, entspannen sich diese gerade so weit, dass die betroffene Person zwar noch ganz normal essen – aber nicht mehr unbewusst knirschen kann. Leider muss die Prozedur alle drei bis sechs Monate wiederholt werden, was bei etwa 350 Euro pro Behandlung schnell ins Geld gehen kann. Deshalb habe ich mich noch nicht entschieden, aber wenn ich es ausprobieren sollte, werde ich euch definitiv mitnehmen.

Diana Ringelsiep

Journalistin, Autorin und Migräne-Patientin

Kolumne: #mittwochsistmigräne

Ich lebe seit über 20 Jahren mit Migräne und habe es mir zur Aufgabe gemacht hat, über die neurologische Erkrankung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Auf dass Betroffene sich weniger einsam und Angehörige weniger hilflos fühlen.

  • Jahrgang 1985
  • Kulturjournalistin, M. A. (2012)
  • Wohnhaft in Essen

www.diana-ringelsiep.de