#16
Mystische junge Frau, Schamanin aus dem Altertum. Thema Migräne Mystische junge Frau, Schamanin aus dem Altertum. Thema Migräne

Folge 16 – Skurrile Behandlungsmethoden

Migräne-Therapien im Wandel der Zeit

"Früher hat es sowas nicht gegeben, da waren die Leute noch gesund und nicht so anfällig wie heute." Ein Spruch, den sich vor allem junge Menschen, die mit einer chronischen Erkrankung leben, immer wieder anhören müssen. Doch auch, wenn es älteren Generationen so vorkommen mag: Der Schein trügt. Viele Krankheiten sind früher bloß weniger erforscht und mangels Austauschmöglichkeiten weniger sichtbar gewesen. Migräne ist so alt wie die Menschheit. Umso spannender ist es, sich den Krankheitsverlauf im historischen Kontext mal genauer anzuschauen: Wie hat man sich die Attacken damals erklärt und wie sind die Betroffenen – ohne entsprechende Medikamente – mit der Erkrankung umgegangen? Diana hat sich für diese Kolumne auf eine Zeitreise begeben.

"Dr. Dreamy, bitte übernehmen Sie!"

 Wenn ich mich auf dem Höhepunkt einer Migräneattacke unter den unerträglichen Schmerzen winde und meinen pulsierenden Schädel in beiden Händen halte, gehen mir oft abstrakte Bilder durch den Kopf. Oft stelle ich mir den Schmerz wie eine murmelgroße, pulsierende Entzündung in meinem Gehirn vor und ich wünschte, Dr. Shepherd von Grey’s Anatomy würde vorbeikommen, meine Schädeldecke öffnen und die fiese Stelle mit einem Löffel herausschaben. Kein Witz, ich kann mir in diesen Momenten nichts Erlöserendes vorstellen, weshalb dieser Film bereits seit 2006 in meinem Kopfkino abläuft, während ich auf die Wirkung meiner Medikamente warte und Sekunden zu Stunden werden. Daher hat es mich auch nicht wirklich überrascht, als ich erstmals zu dem Thema recherchierte und herausfand, dass bereits in der Steinzeit erste chirurgische Schädelöffnungen mithilfe von Steinwerkzeugen durchgeführt worden sind. Schließlich erscheint mir dies als Betroffene sogar 10.000 Jahre später noch immer die naheliegendste Lösung zu sein, wenn die Triptane nicht helfen wollen. Ehrlich gesagt, bin ich selbst von der Brutalität meiner Vorstellungskraft überrascht, während ich diese Zeilen tippe. Aber ich werde das bereits Geschriebene jetzt nicht überarbeiten oder verharmlosen, denn meine morbiden Gedanken bringen die Verzweiflung und die nicht auszuhaltende Schmerzintensität bestens auf den Punkt. Die Tatsache, dass es vermutlich bereits in den Jahren 8.500 bis 7.000 v. Chr. Menschen gab, die mein Schicksal teilten, führt dazu, dass ich mich auf eine seltsame Art und Weise weniger allein mit der neurologischen Erkrankung fühle. Gleichzeitig tun mir meine betroffenen Vorfahren unglaublich leid. Nicht nur, weil es damals noch keine erfolgsversprechenden Behandlungsmöglichkeiten gab, sondern auch, weil ein Migräneanfall – ohne dem heutigen Background-Wissen – obendrein sehr furchteinflößend gewesen sein muss. Ich weiß zumindest, dass ich die Attacke überleben und bald wieder schmerzfrei sein werde. Die Menschen damals haben hingegen geglaubt, von Dämonen besessen zu sein, die durch die Öffnung des Schädels entweichen sollten.

Ich stelle mir den Migräneschmerz oft wie eine pulsierende Entzündung in meinem Gehirn vor und ich wünschte, Dr. Shepherd von Grey’s Anatomy würde vorbeikommen und die fiese Stelle mit einem Löffel herausschaben.

Schädelöffnungen gegen die Dämonen im Kopf

Medizingeschichtlich ist Migräne bereits seit der Frühzeit der Menschheit von verschiedenen Kulturen dokumentiert worden. Immer wieder ist in alten Schriften von einer halbseitigen Kopf- und Augenkrankheit die Rede, deren Ursache man sich nicht erklären konnte. Um 180 n. Chr. ist es schließlich Galen von Pergamon gewesen, der als erster Mediziner den Begriff Hemikrania (halbseitiger Kopfschmerz) verwendete, von dem sich das heutige Wort Migräne ableitet. Jener wohl bedeutendste Arzt der Antike, dessen anatomische Lehre noch bis ins 17. Jahrhundert die gesamte Heilkunde prägte, ging davon aus, dass das Aufsteigen schlechter Körpersäfte der Grund für die starken Kopfschmerzen sei. Andere glaubten, dass Feuchtigkeit, giftige Dämpfe oder sogar unter der Schädeldecke krabbelnde Insekten schuld an dem Elend seien. Doch egal, welche Theorie die Menschen verfolgten, die logische Konsequenz war in den meisten Fällen, dass etwas aus dem Inneren des Kopfes durch eine sogenannte Trepanation entweichen musste. Weltweit sind in der Vergangenheit immer wieder Schädel mit präzisen Öffnungen gefunden worden, die nicht durch Kämpfe oder Unfälle erklärt werden konnten – bei einigen waren sogar noch Sägespuren erkennbar. Umso erstaunlicher, dass diese archäologischen Funde belegen, dass mehr als die Hälfte der Betroffenen diese brachialen Schädelöffnungen überlebt haben muss. Denn eine Vielzahl der Knochen wies an den Rändern Anzeichen eines Heilungsprozesses auf. Dumm nur, dass die Kopfschmerzen infolgedessen wohl eher schlimmer geworden sein dürften und bestimmt nicht wenige Patient*innen an den Langzeitfolgen der OP gestorben sind. Nun muss dazu allerdings gesagt sein, dass es sich natürlich nicht bei all diesen Ausgrabungsstücken um Relikte vergangener Migräne-Behandlungen handelt. Auch bei psychischen Erkrankungen, wie Depressionen und Wahnvorstellungen, sowie im Rahmen kultischer Rituale kamen solche Knochenbohrungen zum Einsatz. Trotzdem läuft es mir eiskalt den Rücken herunter, wenn ich darüber nachdenke, was für Therapiemaßnahmen mir geblüht hätten, wäre ich bloß 500 Jahre früher zur Welt gekommen.

Mittelalterliche Chirurgenwerkzeuge. Thema Migräne

Aderlass, Fischköpfe & Brenneisen

Ein anderes umstrittenes Heilungsverfahren, das bereits seit der Antike bei unterschiedlichen Erkrankungen zum Einsatz kommt, ist der berühmte Aderlass, bei dem Erkrankten lange Zeit bis zu einem Liter Blut entnommen wurde. Logisch, dass diese Methode auch bei der Migräne-Behandlung von jeher eine große Bedeutung zukam – insbesondere im Mittelalter. Inzwischen spielt die Blutentnahme zu therapeutischen Zwecken, bis auf wenige Ausnahmen, keine Rolle mehr in der Inneren Medizin, da in den meisten Fällen schlichtweg kein Heilungseffekt nachgewiesen werden konnte. Deshalb war ich ehrlich gesagt auch äußerst irritiert, als ich bei meiner Recherche zu dem Thema auf zahlreiche aktuelle Angebote von Heilpraktiker*innen gestoßen bin, die allen voran Migräne-Patient*innen in Aussicht stellen, ihren Organismus durch den Aderlass nach Hildegard von Bingen oder eine Blutegel-Therapie von „belastetem Blut“ und daraus resultierenden Kopfschmerzen zu befreien. Ich sage mal so: Besonders vielversprechend kann die Methode ja nicht sein, wenn sie die Menschheit nach rund 6.000-jähriger Anwendung noch immer nicht von der neurologischen Erkrankung befreien konnte und die Ursachen von Migräne bis heute nicht vollständig erforscht sind. Warum ich es zudem höchst problematisch finde, durch aussichtslose Verfahren wie diese mit der Hoffnung verzweifelter Betroffener zu spielen, werde ich bei Gelegenheit mal in einem gesonderten Beitrag beleuchten. Heute sollen schließlich die Therapiemaßnahmen im Mittelpunkt stehen, die mir und den meisten anderen im Jahr 2024 glücklicherweise erspart bleiben. Darunter fällt auch eine Behandlung, der sich Migräniker*innen im alten Ägypten unterziehen mussten. Dort glaubte man nämlich, die Götter der Toten seien für die pochenden Kopfschmerzen verantwortlich, weshalb sie die Schläfen der Betroffenen – die ohnehin geruchsempfindlich waren und unter starker Übelkeit litten – mit abgetrennten Fischköpfen einrieben, um die bösen Götter zu vertreiben. Anderenorts wurde mit heißen Brenneisen gearbeitet, um dem Gehirn überschüssige Feuchtigkeit und Kälte zu entziehen. Da lobe ich mir doch den guten alten Waschlappen und einen Tropfen Tigerbalsam unter der Nase.

Die Menschen glaubten damals, während einer Migräne von Dämonen besessen zu sein, die durch die Öffnung des Schädels entweichen sollten. Erschreckend, dass ich 10.000 Jahre später noch immer nachvollziehen kann, warum ihnen das vielversprechend erschien.

Wenn Experimente die letzte Hoffnung sind

Ich könnte jetzt noch eine ganze Reihe weiterer fragwürdiger Behandlungsmethoden aufzählen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte gegen Migräne zum Einsatz kamen – von gruseligen Beschwörungsriten bis hin zu schmerzhaften Forschungsprozeduren wie den Anfängen der Elektroschocktherapie. Doch was mich selbst bei der Recherche zu dieser Kolumne am meisten schockiert hat, war nicht die brutale Vorgehensweise unserer Vorfahren. Es war die Selbstverständlichkeit mit der ich nachvollziehen konnte, weshalb diese Behandlungsansätze den Menschen damals vielversprechend erschienen. Das Leben mit Migräne ist eine anhaltende existenzielle Herausforderung, weil sie unberechenbar ist und der vernichtende Schmerz dich im Akutfall zerstört und alles andere ausblendet. Wie groß der Wunsch nach Linderung in diesen Momenten ist, zeigen meine wiederkehrenden Grey’s Anatomy-Fantasien, wenn ich mir während eines Anfalls vorstelle, jemand würde den pulsierenden Schmerz aus meinem Hirn herauskratzen. Die Menschen damals wussten es nicht besser und haben es drauf ankommen lassen. Sie waren buchstäblich dazu bereit, sich ohne Narkose den Schädel öffnen zu lassen, in der Hoffnung, dass es aufhört. Und gewissermaßen hat sich daran nichts geändert. Zwar stehen uns inzwischen Schmerzmittel zur Verfügung und wir müssen uns nicht mehr davor fürchten, von Dämonen besessen zu sein – aber wir greifen noch immer nach jedem Strohhalm, egal, welche Nebenwirkungen die jeweilige Methode mit sich bringt. Vor kurzem habe ich mit einer Botox-Therapie begonnen und 31 Injektionen des Nervengiftes in meine Stirn, Schläfen, Kopfhaut und Schultern bekommen. Ich wette, in 300 Jahren werden Mediziner*innen zurückschauen und sich fragen, was ihre Vorfahren sich dabei bloß gedacht haben. Aber ich bin mir sicher: Sollte es bis dahin noch immer keinen Durchbruch in der Migräne-Therapie gegeben haben, werden die Betroffenen noch immer Erfahrungsberichte wie diese lesen, um sich weniger allein zu fühlen – und sie werden mich verstehen.

Quellen

Diana Ringelsiep

Journalistin, Autorin und Migräne-Patientin

Kolumne: #mittwochsistmigräne

Ich lebe seit über 20 Jahren mit Migräne und habe es mir zur Aufgabe gemacht hat, über die neurologische Erkrankung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Auf dass Betroffene sich weniger einsam und Angehörige weniger hilflos fühlen.

  • Jahrgang 1985
  • Kulturjournalistin, M. A. (2012)
  • Wohnhaft in Essen

www.diana-ringelsiep.de