Folge 10 – Migräne Gaslighting
Warum Betroffene auch mal unvernünftig sein dürfen
Das Leben mit Migräne ist für viele Erkrankte mit zahlreichen Einschränkungen verbunden. Während die einen lediglich auf bestimmte Lebensmittel und Alkohol verzichten müssen, können andere es sich nicht mal erlauben, Urlaub in bestimmten Regionen zu machen oder am Wochenende auszuschlafen. Bei manchen wirkt sich die Angst vor dem nächsten Anfall sogar auf wegweisende Entscheidungen wie die Familienplanung oder die Berufswahl aus. Doch wie sehr Betroffene ihren Lebensstil auch anpassen, die meisten von ihnen sind schon mal in Situationen gewesen, in denen sie sich vor Außenstehenden für ihre Schmerzen rechtfertigen mussten. Als hätten sie etwas falsch gemacht – dabei liegt der eigentliche Fehltritt bei jenen, die Betroffenen das Gefühl geben, selbst schuld zu sein.
Es bleibt die Unberechenbarkeit
„Du musst besser auf dich aufpassen“ – Kein anderer „gut gemeinter“ Ratschlag macht mich so sauer wie dieser. Weil er impliziert, dass ich nicht genug aufgepasst und ganz offensichtlich etwas falsch gemacht habe, wenn ich mal wieder mit Migräne flachliege. Früher war ich dahingehend noch nachsichtiger mit meinen Mitmenschen. Inzwischen finde ich Aussagen wie diese richtig unverschämt. Vor allem, wenn sie von Nicht-Betroffenen kommen, die noch nie eine Migräneattacke am eigenen Leib erfahren haben und sich daher auch nicht selbst ständig einschränken müssen. Um eins von vornherein klarzustellen: Migräniker*innen können sich nicht selbst heilen, wenn sie bloß genug Disziplin an den Tag legen und potenzielle Auslöser vermeiden. Migräne ist vielschichtig und unberechenbar.
Eine lebenslange Analyse der eigenen individuellen Trigger ist zwar wichtig, doch eine Garantie für das Ausbleiben der Anfälle gibt sie nicht. An manchen Tagen reicht es bereits aus, ein Glas Rotwein aus der Ferne anzuschauen und die Kopfschmerzen setzen ein. An anderen Tagen können sogar mehrere Trigger zusammenkommen und es passiert rein gar nichts. Diese Unberechenbarkeit ist sehr belastend für Erkrankte, weil sie ihnen das Gefühl gibt, keinerlei Einfluss auf ihren Gesundheitszustand zu haben.
Migräniker*innen können sich nicht selbst heilen, wenn sie bloß genug Disziplin an den Tag legen und potenzielle Auslöser vermeiden.
Auch ich kenne das Gefühl, der tickenden Bombe in meinem Kopf hilflos ausgeliefert zu sein. Und seien wir ehrlich: Oftmals bin ich das auch. Es gibt immer wieder Phasen, in denen ich mir wirklich nichts zu Schulden kommen lasse. Zeiten, in denen ich alle Auslöser vermeide, mich gesund ernähre, regelmäßig an die frische Luft gehe und auf einen ausgewogenen Schlafrhythmus achte. Und trotzdem haut mich dann früher oder später – wie aus dem Nichts – eine Migräne aus den Socken. Kann ich daran etwas ändern und meine Schmerzattacken womöglich sogar planen? Nein.
(Un)vermeidbare Migräne-Trigger
Der Mythos, dass Migräne-Patient*innen bloß besser auf sich aufpassen müssten, basiert auf der Annahme, dass die Betroffenen all ihre Trigger kennen und diese obendrein vermeiden können. Zugegeben, es gibt tatsächlich eine ganze Reihe von Auslösern, denen ich nicht schutzlos ausgeliefert bin. So liegt es beispielsweise an mir, welche Lebensmittel ich konsumiere und ob ich im Laufe des Tages genug Wasser trinke. Seit ich weiß, dass körperliche Verausgabung bei mir zu schweren Migräneattacken führt, ist es meine Aufgabe, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen – weshalb ich u. a. das Boxtraining an den Nagel gehängt habe und beim Wandern inzwischen ausreichend Pausen einplane. Ich habe einen regelrechten Sonnenbrillen-Spleen entwickelt, um mich vor grellem Licht zu schützen und dabei auch noch stylisch auszusehen. Und wenn ich eine Party besuche, ist es allein meine Entscheidung, ob ich Alkohol trinken möchte – und wenn ja, wie viele Drinks ich mir genehmige. Es gibt also einiges zu beachten und diese Liste ließe sich noch unendlich weiterführen.
Allerdings sind nicht alle negativen Einflüsse absehbar. Um beim Beispiel der Geburtstagsparty zu bleiben: Während wir in der Regel abwägen können, welche alkoholischen Getränke wir vertragen und welche ein absolutes No-Go sind, bleiben andere Faktoren unberechenbar. So wissen wir vorab meist nicht, wie laut die Musik oder das Stimmengewirr vor Ort sein wird und ob es einen Rückzugsort gibt. Von Gerüchen wie Parfüm, Zigarettenrauch und Nebelmaschinen ganz zu schweigen. Und es ist ja nicht so, dass Lärm bloß beim Ausgehen eine Rolle spielt. Oft reicht bereits die Baustelle nebenan, das Brummen in der Flugzeugkabine oder das Gemurmel im Großraumbüro, um die Kopfschmerzen einzuläuten. Und bei allen guten Vorsätzen dürfen wir die Trigger nicht vergessen, auf die wir überhaupt keinen Einfluss haben, wie zum Beispiel Stress, das Wetter oder den Menstruationszyklus. Um zurück zu der quälenden Unberechenbarkeit der Erkrankung zu kommen: Eine 100-prozentige Sicherheit darüber, welche Auslöser gerade aufeinandertreffen, gibt es schlichtweg nicht.
Medical Gaslighting
Für viele Betroffene ist es eine zusätzliche Bürde, sich ständig erklären und für ihre Migräne rechtfertigen zu müssen – und allein das kann Stress auslösen und einen Anfall herbeiführen. Mittlerweile blicke ich auf über 20 Jahre zurück, in denen ich mit der neurologischen Erkrankung lebe und besonders wütend macht mich, dass mir in der Vergangenheit nicht nur Unwissende das Gefühl vermittelt haben, dass ich selbst schuld daran sei. Auch von Ärzt*innen habe ich mich unzählige Male verunsichern lassen. Für das, was in diesen Praxen passiert ist, gibt es einen Begriff: Medical Gaslighting. Was es damit auf sich hat, habe ich vor einigen Jahren zufällig bei einer Recherche herausgefunden und mich sofort darin wiedererkannt.
Von „Gaslighting“ spricht man in der Psychologie, wenn Menschen durch ihr Umfeld, oder eine bestimmte Person, gezielt verunsichert werden, bis sie nicht mehr zwischen Einbildung und Realität unterscheiden können. Diese Manipulationsform kommt nicht nur im Kontext häuslicher Gewalt häufig vor, sondern auch in Behandlungszimmern. Und zwar, wann immer ein Arzt oder eine Ärztin die Symptome der erkrankten Person nicht ernst nimmt und nach alternativen Ursachen wie beispielsweise Bewegungsmangel, Dehydration oder Übergewicht sucht. Dass es bei Migräne besonders häufig zu Medical Gaslighting kommt, liegt daran, dass sie zu den sogenannten „unsichtbaren Krankheiten“ gehört.
Migräne kann weder durch Blutproben noch durch CT-Aufnahmen nachgewiesen werden. Zudem variiert sie von Patient zu Patientin und von Attacke zu Attacke. Mit anderen Worten: Diagnose und Behandlung sind mühsam, da sie oft eine jahrelange Analyse und verschiedene Therapieansätze erfordert. Wird die Intensität der Schmerzen jedoch in Frage gestellt und den Betroffenen das Gefühl gegeben, dass sie übertreiben und bloß „besser auf sich aufpassen“ müssen, kann das schwerwiegende Folgen für sie haben. Denn wer mit seinen Schmerzen allein gelassen wird, fühlt sich nicht nur hoffnungslos und einsam – oftmals sind auch Depressionen die Folge.
Auch mal was Gönnen
Mir hat es sehr geholfen, zu erkennen, dass ich nicht empfindlich oder undankbar bin, wenn mich Nicht-Betroffene mit ihren neunmalklugen Ratschlägen nerven. Ganz einfach, weil es mir nicht weiterhilft, mir vorzuwerfen, dass es vielleicht unvernünftig gewesen sei, ein lautes Konzert zu besuchen und am nächsten Tag bis in die Puppen zu schlafen. Ratet mal: Nach über zwei Jahrzehnten Migräne bin ich selbst schon draufgekommen, dass es Dinge gibt, die unter gewissen Voraussetzungen einen Anfall auslösen können. Aber erstens gibt es keine Garantie dafür, dass es passiert – genauso wenig kann ich einer Attacke durch Verzicht sicher aus dem Weg gehen. Und zweitens wisst ihr schlichtweg nicht wie es ist, euch ständig einschränken und disziplinieren zu müssen. Migräne ist so viel mehr als vernichtende Kopfschmerzen samt aller Begleiterscheinungen wie Übelkeit, Erbrechen sowie Lärm-, Licht- und Geruchsempfindlichkeit.
Für ein Leben mit Migräne braucht man Kraft und die schöpft man nicht aus lebenslangen Einschränkungen. Ich werde mir von meiner Migräne nicht alles nehmen lassen, was mir Freude bereitet – und dafür lasse ich mich nicht verurteilen.
Migräne ist ein Leben in ständiger Anspannung, weil man nicht weiß, wann sie einen das nächste Mal treffen und welche Pläne sie diesmal sprengen wird. Migräne ist die Gewissheit, anderen zur Last zu fallen, weil man ständig kurzfristig ausfällt oder während eines Anfalls versorgt werden muss. Migräne ist die tagelange Erschöpfung, nachdem die Schmerzen abgeklungen sind und die Ungewissheit darüber, welche Trigger ihr vorausgegangen sind. Für ein Leben mit Migräne braucht man Kraft und die schöpft man nicht aus lebenslangen Einschränkungen.
So ist mein Job als Journalistin zum Beispiel allein aufgrund der vielen Deadlines und Termine mit sehr viel Stress verbunden – aber er macht mich glücklich und das gleicht vieles wieder aus. Wenn ich eine lange Reise antrete und aufgrund des Jetlags und anderer Faktoren einen Anfall riskiere, mache ich das in dem Wissen, dass ich schöne Erinnerungen schaffen und noch lange von den Erlebnissen vor Ort zehren werde. Und dasselbe gilt für Abende, an denen ich mit meinen Freund*innen über die Strenge schlage und bis in die frühen Morgenstunden zu lauter Musik tanze. Ich werde mir von meiner Migräne nicht alles nehmen lassen, was mir Freude bereitet – und dafür lasse ich mich nicht verurteilen.
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