Chaos aushalten
Etwas, das du lernen kannst.
Aufräumen ist wichtig für einen besseren Überblick und auch um eine Ordnung zu schaffen, in der wir uns wohlfühlen. Jedoch kann es Lebensphasen geben, in denen es notwendig ist, etwas Chaos auszuhalten, denn ein gewisses Durcheinander und ein sinnloses Aufheben von Dingen hat durchaus eine Bedeutung.
Chaos aushalten will gelernt sein!
Manchmal möchten wir alles festhalten und beginnen zu sammeln, zu sortieren, zu horten. Verständlich, denn was wir wegwerfen, weggeben oder verschenken, kommt nicht wieder, lässt sich nicht zurückholen. Und was wir umräumen, umschichten, verändern, da wissen wir vorher nicht genau, ob uns das gefallen wird, ob es dann besser oder schöner ist und sich der Aufwand gelohnt hat. Manchmal ist es auch bizarr, da stört sogar ein etwas schief hängendes Bild – nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern weil dadurch das Arrangement, wie Bilder zu hängen haben, nicht mehr stimmig ist. Unterbewusst schleicht sich die Befürchtung ein: Wenn nun schon Bilder anfangen schief zu hängen, da könnte noch, wer weiß, was in Unordnung geraten und sich der Kontrolle entziehen. Deshalb nerven bereits geringste Abweichungen vom Gewohnten, denn Ordnung sichert den Überblick und schafft Vertrautes. Immer dann, wenn wir uns unsicher fühlen, beginnen wir, stärker nachzuprüfen, mehr zu kontrollieren – ein fataler Kreislauf, weil wir dennoch nicht ruhiger werden.
"Ordnung ist ein höchst individuelles Konzept"
Ordnungsberaterin Gunda Borgeest
Jedem sein Ordnungssystem
Da stellt sich die Frage, was eigentlich ist Ordnung, denn eine „richtige“ Ordnung, die es für alle gibt, kann es nicht geben. Was wir in der Wohnung haben und wie wir damit umgehen, ist so individuell wie unser Fingerabdruck. Es ist ein System, in das Gegenstände nach einer bestimmten Vorgehensweise sortiert werden, eben für eine bessere Übersicht.
Dabei gibt es ein unterschiedliches Maß an Ordnung, das verschieden wirkt. Ein zu rigides Ordnungssystem kann Enge und Unwohlsein erzeugen, es fühlt sich kalt und seelenlos an. Ein heftiges Chaos mag nerven, ein bisschen Unordnung dagegen kann sogar wohlig und inspirieren sein. „Ordnung ist ein höchst individuelles Konzept“, sagt die Münchener Ordnungsberaterin Gunda Borgeest. „Es gilt herausfinden: Was wünsche ich mir, was passt zu mir?“
Alles im Griff zu haben schließt Überraschendes aus
Eine kleine Selbstbeobachtung kann hilfreich sein. Borgeest unterscheidet fünf Typen.
- Diejenigen, die horten, gern und oft neue Dinge einkaufen und Zuhause anhäufen.
- Die PerfektionistInnen, diesich erst ans Aufräumen machen, wenn sie die dafür perfekte Infrastruktur gefunden haben, also die richtige Aufbewahrungsbox oder das passende Regal.
- Die Leidgeprüften, die sich in einer schwierigen Lebensphase befinden, weil sie durch Trennung oder Tod einen nahestehenden Menschen nichts verändern möchten.
- Die Kreativen, die sich von einem gewissen Maß an Chaos inspiriert fühlen.
- Die, die immer alles aufschieben, weil sie Aufräumen und Putzen als lästig ansehen.
Wie das eigene Ordnungsempfinden auch ausgeprägt ist, eines ist klar: Ständiges Ordnung halten schließt Überraschendes aus. Es ist ein bisschen so, als würden wir im Restaurant immer das gleiche Essen bestellen.
Alles im Griff zu haben ist das Gegenstück von Gelassenheit und signalisiert, dass einen nichts mehr durcheinanderbringen darf. Mehr noch: Wer darauf bedacht ist, bis ins Detail den absoluten Überblick haben zu wollen, kommt auf keine dummen, besser gesagt, keine verrückten Gedanken. Wie schade!
Ordnung halten ist ein individueller Prozess
Vier Fragen an den Neurowissenschaftler Henning Beck
Es gibt so viele Ratgeber, unter dem Motto: Räum dich glücklich. Sind solche Versprechungen nicht zu hoch gegriffen?
Absolut – sie sind Teil eines „Glücks-Terrorismus“, der die Ratgeber-Abteilungen der Buchhandlungen bevölkert. Man wird nicht automatisch ein glücklicher Mensch, sobald man aufräumt. Wenn man aber eine Sehnsucht nach Klärung, Leichtigkeit und „Weniger ist mehr“ in sich trägt, kann eine Veränderung von Gewohnheiten und das Loslassen von Dingen sinnvoll sein. Aus meiner Sicht ist Ordnung ein sehr individueller Prozess, der sich nicht mit schematischen Methoden verwirklichen lässt.
Tut es gut, etwas Chaos auszuhalten?
Das ist eine Typ-Frage. Es gibt Menschen, die brauchen zum Beispiel leere Arbeitsflächen oder Schreibtische, um sich wohl zu fühlen und um kreativ zu sein. Bei anderen verursacht Leere ein gewisses Unwohlsein und sie brauchen Dinge in Sichtweite, die sie inspirieren und die ihnen Halt geben.
Worin unterscheidet sich Ordnung halten, aufräumen und wegwerfen in jüngeren Jahren zum reiferen Alter?
Nach meiner Erfahrung empfinden ältere Menschen die Dinge, die sie umgeben, mehr als Ballast im Vergleich zu Jüngeren. Es fällt ihnen schwerer, Ordnung zu halten, sie fühlen sich überfordert. Oft wünschen sie sich mehr Übersicht, wissen aber nicht, wo sie anfangen sollen, denn es hat sich viel angehäuft in einem langen Leben. Doch nun werden Dinge, die mal sinnvoll waren, nicht mehr benutzt, nicht mehr gebraucht. Viele ältere Menschen möchten einerseits verhindern, dass all diese Anhäufungen nach ihrem Tod Kinder oder Kindeskinder belasten, andererseits hängen sie an ihrer Vergangenheit, die sich in den Dingen manifestiert. Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, Dinge, die man liebt, wegzugeben. Allerdings ist das eine Frage der Menge und des vorhandenen Platzes. Wenn ein Mensch unter der Vielzahl der Dinge leidet, sich erdrückt fühlt und das Gefühl hat, nicht mehr durchatmen zu können, sollte eine individuelle, stimmige Loslösung mit Unterstützung von Freunden, Familie oder OrdnungsexpertInnen in Betracht gezogen werden.
Inwiefern hängt Aufräumen und Wegwerfen mit Verlusterfahrung zusammen?
Anhäufen und Festhalten hängt oft mit Verlusterfahrungen zusammen, vor allem aber mit einem erlittenen Mangel. Das muss kein materieller Mangel sein, es kann ein Mangel an Liebe, Wertschätzung und Gesehen-Werden dahinter stecken. In unserer materialistischen Welt glauben wir, dass das Kaufen und der Besitz von vielen Dingen uns sicher macht, uns in der Welt verortet und Identität stiftet. Gleichzeitig spüren wir aber, dass uns die dreißigste Designer-Tasche oder die zehnte hochwertige Armbanduhr auf Dauer kein bisschen mehr Zufriedenheit bringen.
Andererseits: Menschen, die nahe Angehörige oder Freunde verloren haben, können sich oft nicht von den Dingen dieser Menschen trennen, weil sie glauben, dass die Toten darin weiterleben. Außerdem treibt sie die Sorge um, sie könnten Dinge weggeben und diesen Schritt später bereuen. Diese Ängste führen oft dazu, dass Hinterbliebene erst einmal alles behalten.
7 Anregungen, um den Drang nach der perfekten Ordnung zu hinterfragen
Alles unter Kontrolle zu haben, gibt ein Gefühl von Sicherheit. Doch erleben wir oft genug, dass wir nicht alles kontrollieren können. Hier sieben Anregungen für den Alltag:
- Mehr Gelassenheit durch das Pareto-Prinzip. Mit 20 Prozent Arbeitsaufwand erreichen wir zumeist 80 Prozent vom Ergebnis. Und die letzten 20 Prozent bis zum Endergebnis fordern uns viel ab, nämlich 80 Prozent. Entweder wir klotzen, wenn nötig, weiter ran oder halten den „unperfekten“ Zustand aus, weil es eben auch so geht.
- Die inneren Antreiber aufspüren. Vielleicht sitzt uns noch das elterliche Erziehungssystem im Nacken, dass es alles hundertprozentig gut sein muss?
- Öfter den Autopiloten einschalten, denn wer hat das noch nicht erlebt – manche Dinge erledigen sich von selbst.
- Fehlerkultur zulassen, niemand ist perfekt.
- Genug ist genug – wenn ein Ziel erreicht ist, reicht es.
- Vom Entweder-oder zum Sowohl-als-auch umschwingen.
- Auf das Bauchgefühl hören und wissen: Weniger ist oft mehr.
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