Tagträume
Eine wundervolle Welt
Unser Gehirn nutzt freie Sekunden zum Fantasieren. Diese Zeit ist keineswegs verschwendet und genaueres Betrachten der inneren Bilder zeigt: Sie tun uns gut! Auch je älter wir werden gilt: Ausklinken erwünscht, denn Tagträume können sehr entspannend sein und uns Kraft geben.
Kino im Kopf
Marion nimmt den kleinen bunten Holzvogel von ihrem Fensterbrett, ein Mitbringsel von ihrer Urlaubsreise nach Mauritius. Sie schaut ihn versonnen an und ihr ist, als würde sie wieder dort sein, den warmen Wind spüren, barfuß am Strand entlang laufen und das Rauschen des Meeres hören. Sie träumt sich in die Ferne. Es ist eine kurze Pause im vollgepackten Alltag, die sie erfrischt. Gutgelaunt geht die junge Frau dann wieder ihrer Arbeit nach.
Über nächtliche Träume ist ja schon viel geschrieben worden, Tagträume dagegen sind weniger erforscht und dabei so präsent in unserem Leben. Der Psychologe Heiko Ernst hat dieses Phänomen untersucht, für sein Buch „Innenwelten“: „Wenn unser Geist beschäftigungslos oder nicht besonders gefordert ist, steigen bildhafte Vorstellungen und Gedanken in uns auf. Wir driften in eine innere Region unseres Bewusstseins, deutlich abgetrennt von der Außenwelt und ihren Anforderungen. Wahrnehmung und Aufmerksamkeit bleiben dennoch im Stand-by-Modus.“
Phantasiereisen sind persönliche Rückzugsorte, dort verbergen sich unbewusste Wünsche, verdrängte Erfahrungen, stille Sehnsüchte und vage Hoffnungen. In Tagträumen verschmelzen Wunsch und Wirklichkeit, Fantasie und Realität. „Als Tagträumer“, so Heiko Ernst, „sind wir die Drehbuchautoren: Wir bestimmen Handlung und Ausstattung, wir sind die Hauptdarsteller, denn Tagträume sind immer Ich-Träume. Und wir sind zugleich auch Zuschauer, für die ein Stück aufgeführt wird.“
Experten gehen davon aus, dass wir fast 50 Prozent unserer Wachphase mit Tagträumen verbringen. Ob wir uns Situationen real vorstellen oder in Luftschlössern schweben, das hängt von unserer Persönlichkeit ab, aber auch von unseren Emotionen, Erfahrungen und unserem Wissen. Es lohnt sich, nachzuforschen: Wo und unter welchen Umständen findet mein Tagtraum statt? Welche Geschichten erzähle ich mir? Gibt es wiederkehrende Motive und Orte in diesen Geschichten? Warum erzähle ich mir eine ganz bestimmte Geschichte und warum gerade jetzt?
Tagträume unterscheiden sich zu nächtlichen Träumen in ihrer Funktion, denn nächtliche Träume räumen sozusagen die Festplatte auf. Tagträume sind meist bildhafte, mit Träumen vergleichbare Phantasievorstellungen.
Tagträume tun etwas für dich
Emotionale Balance und psychische Gesundheit
Tagträume tun unserem Gehirn gut, dieser Auffassung ist der Psychologe Dr. Thomas Kretschmar, Leiter des Mind Institute in Berlin. Während unserer Phantasiereisen verknüpfen sich verschiedene Gehirnregionen miteinander. Wir haben in dieser scheinbaren inneren Ruhephase Gelegenheit, uns einzustimmen auf das, was kommt oder zu reflektieren über das, was gewesen ist. Das ermöglicht, Erlebtes im Langzeitgedächtnis abzuspeichern, um später darauf zurückzugreifen. Wir können ebenso spielerisch geplante Handlungen vorwegnehmen, uns ausmalen, wie etwas laufen soll. Auch mentales Probehandeln in allen Varianten ist möglich, ob es um die bevorstehende Hochzeit oder die Wanderung am See geht.
Darüber hinaus unterstützt die emotionale Selbstregulierung, besonders für Situationen, die wir im Augenblick nicht verändern können. “Somit sind sie eine wirksame Form des Gefühlsmanagements, können uns innerlich beruhigen, trösten oder erfreuen, das ist dann wohltuend, wenn die Außenwelt uns ärgert, kränkt oder langweilt.“, so Heiko Ernst.
Tagträume machen kreativ
Es tut gut, sich seinen Tagträumen hinzugeben – das haben Forscher des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) zusammen mit Wissenschaftlern der britischen Universität York herausgefunden. Denn Tagträumen macht kreativ und kann helfen, sich auf schwierige Situationen vorzubereiten oder aktuelle Probleme zu lösen. Wenn wir uns bewusst Zeit zum Träumen nehmen, arbeiten jene Hirnstrukturen, die für kognitive Kontrollen zuständig sind, effektiver zusammen. Es fördert die psychische Gesundheit: „Menschen, die häufig über die Zukunft und über Positives nachdenken, fühlen sich nach dem emotionalen Abschweifen besser“, sagt Johannes Golchert, Doktorand am Leipziger Max-Planck-Institut. Wissenschaftler raten, Tagträume öfter auch bewusst einzusetzen, insbesondere dann, wenn das Gefühl entsteht, mit einer Aufgabe nicht weiterzukommen oder für ein Problem keine rechte Lösung zu finden. In einer solchen Situation ist es gut, die Arbeit kurz ruhen zu lassen und einer geistig anspruchslosen Tätigkeit nachzugehen, wie zum Beispiel Staubsaugen. Dabei kommt man schnell auf andere Gedanken.
Musik lässt die Gedanken kreisen
Wer auf Phantasiereise gehen möchte, sollte auch Musik hören! Da werden jene Bereiche im Gehirn aktiviert, die für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig sind. Der Neurowissenschaftler Professor Stefan Koelsch fand mithilfe einer Studie der FU Berlin heraus, dass besonders traurige Musik das Wachträumen und die Selbstreflexion fördern. Messungen der Hirnregionen haben ergeben, dass bei langsamen, schwermütigen Klängen das sogenannte „Default Mode Network“ angeregt wird, jene Region, die beim Tagträumen aktiv ist. Musik aktiviert bekanntlich unser Gefühlsspektrum, von Nostalgie über Trauer bis hin zur Freude. Wer tief in seine Seele eintauchen möchte, kann es mal mit Leonard Cohen „Take this Longing“ probieren. Oder dem „Song for Bob“ von Nick Cave & Warren Ellis. Ganz klassisch gelingt es mit Beethovens Mondscheinsonate. Wem das alles zu traurig ist, legt „Daydream Believer“ von The Monkees auf oder sucht sich einfach seine Lieblingssongs heraus und dreht sie ganz laut auf.
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