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Tränen lügen nicht

Warum wir weinen – und das gut so ist

Weinen ist vielen Menschen – besonders Männern – unangenehm, vor allem in der Öffentlichkeit. Der erste Reflex, wenn die Augen feucht werden und wir den sprichwörtlichen Kloß im Hals spüren: runterschlucken und bloß keine Emotionen zeigen. Doch das ist meistens die falsche Taktik. Weinen reinigt die Seele und spült wortwörtlich Stress aus dem Körper heraus.

„Jammerlappen“, „Heulsuse“ oder

„Weinen wie ein Schlosshund”,

wie man es auch ausdrückt – Tränen und Weinen sind ein emotional hoch (und bei vielen Menschen negativ) aufgeladenes Thema. Das liegt auch in der Natur der Sache: Der Mensch ist eine Spezies, die zu emotionalen Tränen in der Lage ist. Das Weinen gehört – übrigens ebenso wie das Lachen – zu den angeborenen Emotionen des Menschen.

Während emotionale Tränen von einer starken Empfindung wie Kummer oder Schmerz ausgelöst werden, erfüllen  die basalen Tränen, die das Auge befeuchten und reinigen, eine Schutzfunktion. Die reflektorischen Tränen entstehen wiederum, wenn beispielsweise ein Fremdkörper ins Auge gelangt oder wenn wir Zwiebeln schneiden – sie sind also ein Reflex.

Weinen reinigt die Seele

Die Grundbestandteile der Tränenflüssigkeit sind immer dieselben: Wasser, Elektrolyte und Proteine. Je nach Tränenart unterschiedet sich jedoch ihre Konzentration. Emotionale Tränen enthalten mehr Proteine und eine deutlich höhere Konzentration an Hormonen, die im Körper das Stresshormon Cortisol anheben. Tränen spülen also buchstäblich Stress aus dem Körper heraus. Das könnte ein Grund für die wohltuende Wirkung des Weinens sein.

Nathalie Krahé

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Nathalie Krahé erlebt diese wohltuende Wirkung in ihrer Praxis in Frankfurt am Main häufig: „Wenn Emotion raus darf, wenn sie sich zeigen darf, dann ist erstmal Druck aus dem System raus.“

Krahé ist Diplom-Psychologin, Coach und Mitglied im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP). Für sie gehören Emotionen zu einer gesunden Lebendigkeit dazu. „Wenn wir sie uns erlauben und nicht wegdrücken, dann hat das etwas Belebendes und Befreiendes.“

Eine australische Studie, die Forscher im Jahr 2019 im Fachjournal „Emotion“ veröffentlicht haben, belegt diese stressmindernde Wirkung des Weinens. Das Team um Dr. Leah Sharman von der University of Queensland hatte knapp 200 Studierenden traurige oder neutrale Videos vorgespielt und anschließend ihre Reaktionen in einem Stresstest gemessen. Das Ergebnis: Probanden, die weinten, schütteten beim Stresstest weniger Stresshormone aus als solche, die nicht geweint hatten. Wenn wir weinen, schüttet unser Körper Endorphine und verschiedene beruhigende Stoffe aus, um unsere Gefühle zurück ins Gleichgewicht zu bringen. Deshalb fühlen wir uns nach dem Weinen erleichtert, etwas glücklicher und können wieder klarer denken.

Häufig gilt Weinen als Zeichen der Schwäche

Auch Nathalie Krahé befürwortet es, sich die Tränen zu gestatten. „Sie fördern letztlich die seelische Gesundheit. Wir geben uns selbst die Erlaubnis, Emotionen herauszulassen, und das hat immer etwas Erleichterndes.“ Oder anders gesagt: Wer seine Tränen zu häufig zurückhält, erhöht sein Stresslevel.

Viele Umfragen und Studien zeigen: Frauen weinen häufiger und länger als Männer. Nathalie Krahé vermutet: „Das ist ein reines Sozialisationsphänomen.“ Je nach Erziehung und kulturellem Hintergrund gilt Weinen auch heute noch als Zeichen von Schwäche oder Instabilität. Vor allem in westlichen Kulturen werde den Jungen viel weniger das Weinen gestattet als den Mädchen, sagt Krahé. „Das beruht auf einem lange gepflegten Geschlechterklischee. Frauen und Mädchen wird eine ganz andere emotionale Reaktion zugestanden als Männern und Jungen. Ebenso werden Mädchen häufig anders getröstet als Jungen. Aber ich habe das Gefühl, das ändert sich gerade.“

Die Fähigkeit, emotional berührbar zu sein und Tränen fließen zu lassen, haben alle Geschlechter gemeinsam. „Wenn es emotional wird und sich echte Gefühle zeigen, dann fließen bei Männern wie bei Frauen die Tränen. Das macht keinen großen Unterschied“, weiß Krahé aus Erfahrung. „Dass das Weinen so schambesetzt ist, hat nur mit unserer Bewertung zu tun. Man könnte ja auch sagen, Tränen sind ein Signal für eine besonders gute Fähigkeit, Emotionen zu zeigen. Und schon wäre es etwas Erstrebenswertes.“

WP Content Mann weint

Krahé plädiert dafür, endlich wegzukommen von den „Indianer kennen keinen Schmerz und Jungs dürfen nicht weinen“-Klischees. „Tränen sind einfach kein Zeichen von Schwäche. Für Tränen braucht man sich nicht schämen. Sie sind ein Ausdruck von Lebendigkeit und Menschlichkeit.“

Ein niederländisches Forscherteam hat sich bereits 2015 mit der Funktion von emotionalen Tränen beschäftigt. Dr. Asmir Gračanin stellt mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Universität Tilburg (im Fachjournal „Motivation and Emotion“) zwei Haupttheorien auf: Die beiden Theorien schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich vielmehr, verkünden die Forscher. Die Tränen können demnach für den Weinenden selbst eine reinigende, erleichternde Wirkung haben und der Erholung (psychologische Homöostase) dienen. Dahingegen können die Tränen auch als zwischenmenschliches Kommunikationsmittel dienen. Sie sollen Hilflosigkeit, Schmerz oder Angst signalisieren und Empathie oder unterstützendes Verhalten bei den Mitmenschen bewirken.

Weinen schafft Nähe

Kleinkinder weinen, um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern einzufordern. Sie haben aber auch keine andere Möglichkeit. Obwohl wir miteinander sprechen können, um unsere Sorgen und Nöte auszudrücken, ruft auch im Erwachsenenalter ein weinender Mensch bei anderen – dank der Spiegelneuronen* – Empathie hervor. „Es ist ein total kluger evolutionsbiologischer Effekt, dass Menschen darüber so etwas wie Mitgefühl entwickeln können“, sagt Krahé. „Unser Denken ist dafür zu langsam.“ Vor einem anderen Menschen zu weinen schaffe eine besondere Form von Nähe zu dieser Person. Zudem sind Menschen auch zu Freudentränen in der Lage, ergänzt Krahé: „Es gibt ja kaum etwas Schöneres, als so miteinander zu lachen, dass einem die Tränen kommen. Das belebt, heitert auf und verbindet.“

*Spiegelneuronen sind Nervenzellen im Gehirn, die aktiviert werden, wenn man eine Handlung durchführt, sie beobachtet oder über sie nachdenkt. Die
Spiegelneuronen sind nicht nur beim Einfühlungsvermögen und bei Mitgefühl relevant, sie spielen auch in der Sympathie eine große Rolle.

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